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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

Eine dichterische Prosa deutscher Zunge erwuchs erst gegen das Ende des
vierzehnten Jahrhunderts. Sie quillt aus der Predigt, wächst durch die Mystiker,
die das epische Element bevorzugen, und bleibt zunächst durchaus im geistlichen
Fahrwasser: die deutsche Legende, die deutsche Bibel. Allmählich zieht die
wechselnde Geschmacksrichtung die gesamte Epik in die Bahnen der Prosa. Die
Ritterromane werden der metrischen Form entkleidet, eine umfängliche Über¬
setzertätigkeit gibt die lateinische Unterhaltungslektüre in deutscher Prosa wieder.
Es mündet also die gesamte epische und prosaische Produktion in einen Strom,
der immer mächtiger anschwillt. (So fließen auch die verschiedenen "Richtungen"
der Lyrik in dieser Zeit zusammen: die gelehrte und geistliche, die ritterliche und
die volksmäßige.) Das gesamte Kulturgebilde der Zeit wird gleicherweise ver¬
einigt; Höhepunkte dieser Literatur sind die Legenden, die als Winter- und
Sommerteil zusammengeschlossen, sich wenigstens bis ins vorige Jahrhundert
lebendig erhalten haben, die Bibelübersetzung, die ihren durchschlagenden und
dauernden Erfolg mit Luthers Werk errang, die Volksbücher endlich, wie man
jene mannigfache, vielfältige Produktion mit einem Namen zu nennen pflegt,
die alle übrigen Stoffe geistlichen und weltlichen Inhaltes erraffte.

Die deutsche Prosa ist durch die Schule der geistlichen Bildung und der
lateinischen Sprache gegangen; vielleicht wäre ihr trotzdem noch immer eine
ähnliche Entwicklungsmöglichkeit gegeben gewesen wie der nordischen -- aber
welche Fülle fremder Voraussetzungen hatte sie noch zu verarbeiten! die ganze
literarische Welt steuert ihr bei: das Rittertum in romanischer und germanischer
Auffassung mitsamt seinem reich entwickelten Motiven- und Formenschatz; die alt¬
deutsche Mythenwelt und das Christentum, die eine noch, das andere erst jetz
im Volksethos wahrhaft lebendig, wie die Legendenpoesie zeigt, beide nichts
weniger als erstarrte Dogmenreligionen, sondern wirkend und zeugend, dazu die
mythologisierende Volkskraft, die sich an Gestalten wie Faust oder Eulenspiegel
erprobt; die Antike und der Orient, mit aller weltumspinnenden Phantastik,
endlich Abenteurergeschichten und Märchen und die unmeßbare Summe der inter¬
nationalen Wandermotive, die in lateinischen Sammelwerken oder durch Boccaccio
ihre literarische Prägung schon erfahren hatten.

So sind die Volksbücher keineswegs einheitlich in innerem oder äußeren:
Stil, auch in dieser Hinsicht schwer der isländischen Prosa vergleichbar, die
trotz aller Mannigfaltigkeit im wesentlichen doch ein Antlitz zeigt. Die Schwank¬
literatur zum Beispiel ist schon frühzeitig zu einem besonderen Zweige aus¬
gewachsen, sei es. daß der Anekdotenschatz ohne erkennbare Ordnung aneinander¬
gereiht erscheint, wie im Eulenspiegel, oder daß ein starker Rahmen den wech¬
selnden Komplex umspannt, wie im Volksbuch vom Dr. Faustus.

Vielleicht läßt sich vom Stil der altdeutschen Prosa annähernd folgendes
Bild entwerfen. Wie die nordische ist die deutsche Prosa "naiv", wie man
zu sagen pflegt, d. h. es fehlen ihr die Reizmittel, die heute verlangt werden, zu¬
vörderst der Begriff der Spannung, der den modernen Roman beherrscht.


Altnordische und altdeutsche Prosa

Eine dichterische Prosa deutscher Zunge erwuchs erst gegen das Ende des
vierzehnten Jahrhunderts. Sie quillt aus der Predigt, wächst durch die Mystiker,
die das epische Element bevorzugen, und bleibt zunächst durchaus im geistlichen
Fahrwasser: die deutsche Legende, die deutsche Bibel. Allmählich zieht die
wechselnde Geschmacksrichtung die gesamte Epik in die Bahnen der Prosa. Die
Ritterromane werden der metrischen Form entkleidet, eine umfängliche Über¬
setzertätigkeit gibt die lateinische Unterhaltungslektüre in deutscher Prosa wieder.
Es mündet also die gesamte epische und prosaische Produktion in einen Strom,
der immer mächtiger anschwillt. (So fließen auch die verschiedenen „Richtungen"
der Lyrik in dieser Zeit zusammen: die gelehrte und geistliche, die ritterliche und
die volksmäßige.) Das gesamte Kulturgebilde der Zeit wird gleicherweise ver¬
einigt; Höhepunkte dieser Literatur sind die Legenden, die als Winter- und
Sommerteil zusammengeschlossen, sich wenigstens bis ins vorige Jahrhundert
lebendig erhalten haben, die Bibelübersetzung, die ihren durchschlagenden und
dauernden Erfolg mit Luthers Werk errang, die Volksbücher endlich, wie man
jene mannigfache, vielfältige Produktion mit einem Namen zu nennen pflegt,
die alle übrigen Stoffe geistlichen und weltlichen Inhaltes erraffte.

Die deutsche Prosa ist durch die Schule der geistlichen Bildung und der
lateinischen Sprache gegangen; vielleicht wäre ihr trotzdem noch immer eine
ähnliche Entwicklungsmöglichkeit gegeben gewesen wie der nordischen — aber
welche Fülle fremder Voraussetzungen hatte sie noch zu verarbeiten! die ganze
literarische Welt steuert ihr bei: das Rittertum in romanischer und germanischer
Auffassung mitsamt seinem reich entwickelten Motiven- und Formenschatz; die alt¬
deutsche Mythenwelt und das Christentum, die eine noch, das andere erst jetz
im Volksethos wahrhaft lebendig, wie die Legendenpoesie zeigt, beide nichts
weniger als erstarrte Dogmenreligionen, sondern wirkend und zeugend, dazu die
mythologisierende Volkskraft, die sich an Gestalten wie Faust oder Eulenspiegel
erprobt; die Antike und der Orient, mit aller weltumspinnenden Phantastik,
endlich Abenteurergeschichten und Märchen und die unmeßbare Summe der inter¬
nationalen Wandermotive, die in lateinischen Sammelwerken oder durch Boccaccio
ihre literarische Prägung schon erfahren hatten.

So sind die Volksbücher keineswegs einheitlich in innerem oder äußeren:
Stil, auch in dieser Hinsicht schwer der isländischen Prosa vergleichbar, die
trotz aller Mannigfaltigkeit im wesentlichen doch ein Antlitz zeigt. Die Schwank¬
literatur zum Beispiel ist schon frühzeitig zu einem besonderen Zweige aus¬
gewachsen, sei es. daß der Anekdotenschatz ohne erkennbare Ordnung aneinander¬
gereiht erscheint, wie im Eulenspiegel, oder daß ein starker Rahmen den wech¬
selnden Komplex umspannt, wie im Volksbuch vom Dr. Faustus.

Vielleicht läßt sich vom Stil der altdeutschen Prosa annähernd folgendes
Bild entwerfen. Wie die nordische ist die deutsche Prosa „naiv", wie man
zu sagen pflegt, d. h. es fehlen ihr die Reizmittel, die heute verlangt werden, zu¬
vörderst der Begriff der Spannung, der den modernen Roman beherrscht.


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[0126] Altnordische und altdeutsche Prosa Eine dichterische Prosa deutscher Zunge erwuchs erst gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts. Sie quillt aus der Predigt, wächst durch die Mystiker, die das epische Element bevorzugen, und bleibt zunächst durchaus im geistlichen Fahrwasser: die deutsche Legende, die deutsche Bibel. Allmählich zieht die wechselnde Geschmacksrichtung die gesamte Epik in die Bahnen der Prosa. Die Ritterromane werden der metrischen Form entkleidet, eine umfängliche Über¬ setzertätigkeit gibt die lateinische Unterhaltungslektüre in deutscher Prosa wieder. Es mündet also die gesamte epische und prosaische Produktion in einen Strom, der immer mächtiger anschwillt. (So fließen auch die verschiedenen „Richtungen" der Lyrik in dieser Zeit zusammen: die gelehrte und geistliche, die ritterliche und die volksmäßige.) Das gesamte Kulturgebilde der Zeit wird gleicherweise ver¬ einigt; Höhepunkte dieser Literatur sind die Legenden, die als Winter- und Sommerteil zusammengeschlossen, sich wenigstens bis ins vorige Jahrhundert lebendig erhalten haben, die Bibelübersetzung, die ihren durchschlagenden und dauernden Erfolg mit Luthers Werk errang, die Volksbücher endlich, wie man jene mannigfache, vielfältige Produktion mit einem Namen zu nennen pflegt, die alle übrigen Stoffe geistlichen und weltlichen Inhaltes erraffte. Die deutsche Prosa ist durch die Schule der geistlichen Bildung und der lateinischen Sprache gegangen; vielleicht wäre ihr trotzdem noch immer eine ähnliche Entwicklungsmöglichkeit gegeben gewesen wie der nordischen — aber welche Fülle fremder Voraussetzungen hatte sie noch zu verarbeiten! die ganze literarische Welt steuert ihr bei: das Rittertum in romanischer und germanischer Auffassung mitsamt seinem reich entwickelten Motiven- und Formenschatz; die alt¬ deutsche Mythenwelt und das Christentum, die eine noch, das andere erst jetz im Volksethos wahrhaft lebendig, wie die Legendenpoesie zeigt, beide nichts weniger als erstarrte Dogmenreligionen, sondern wirkend und zeugend, dazu die mythologisierende Volkskraft, die sich an Gestalten wie Faust oder Eulenspiegel erprobt; die Antike und der Orient, mit aller weltumspinnenden Phantastik, endlich Abenteurergeschichten und Märchen und die unmeßbare Summe der inter¬ nationalen Wandermotive, die in lateinischen Sammelwerken oder durch Boccaccio ihre literarische Prägung schon erfahren hatten. So sind die Volksbücher keineswegs einheitlich in innerem oder äußeren: Stil, auch in dieser Hinsicht schwer der isländischen Prosa vergleichbar, die trotz aller Mannigfaltigkeit im wesentlichen doch ein Antlitz zeigt. Die Schwank¬ literatur zum Beispiel ist schon frühzeitig zu einem besonderen Zweige aus¬ gewachsen, sei es. daß der Anekdotenschatz ohne erkennbare Ordnung aneinander¬ gereiht erscheint, wie im Eulenspiegel, oder daß ein starker Rahmen den wech¬ selnden Komplex umspannt, wie im Volksbuch vom Dr. Faustus. Vielleicht läßt sich vom Stil der altdeutschen Prosa annähernd folgendes Bild entwerfen. Wie die nordische ist die deutsche Prosa „naiv", wie man zu sagen pflegt, d. h. es fehlen ihr die Reizmittel, die heute verlangt werden, zu¬ vörderst der Begriff der Spannung, der den modernen Roman beherrscht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/126>, abgerufen am 15.06.2024.