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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Altnordische und altdeutsche Prosa

Nicht die Freude am Neuen und Unerwartetem gibt den Ausschlag, es ist
Vergnügen am bekannten, längstvertrauten Stoff; das bezeugen schon die aus¬
führlichen Kapitelüberschriften, die dem Gang der Handlung mit einer kurzen
Inhaltsangabe vorgreifen. Das Prinzip des erhabenen, unantastbaren, wenn
auch nicht historischen Stoffes verbindet die Saga mit den Volksbüchern. Der
überkommene Stoff wird umgemodelt wiedergegeben, es wird weder psychologisch
gebeutelt, noch werden neue überraschende Wendungen eingeschaltet, es wird
nichts bewußt erfunden, kurz, es mangeln alle jene Zutaten, denen wir heute
den Genuß am bekannten Stoff allein danken wollen. Wenn sich der Stoff
gleichwohl wandelt, wenn einzelnes ausgesiebt wird, anderes hinzutritt, tut das
die Überlieferung, denn die Stoffe werden mündlich weitergegeben und entwickeln
sich organisch; auch die Volksbücher sind zunächst noch zum Vorlesen bestimmt,
auch sie sind anonym wie die Saga.

Die überzeugende Realität der Jsländergeschichten darf man freilich in den
Volksbüchern nicht suchen; die Darstellung wahrer Vorgänge ist ja nicht beab¬
sichtigt. Mit vielen Märchenmotiven ist viel Märchenstimmung übernommen, die
Häufung typischer Zahlen z. B. ist dafür bezeichnend. Die Ereignisse spielen
auf einem allgemeinen Schauplatz, immerhin wird mit phantastischen geographischen
Begriffen geschickt genug operiert, um eine Art poetisch genügender Anschaulichkeit
zu erreichen. Ein Erbe des Ritterromans und des Märchens ist die Steigerung
des jeweiligen Einzelfalles: mit aller Schönheit und Köstlichkeit ist die gerne
beschriebene Kleidung und der Schmuck geziert, die Situation ist die schönste,
die man sich denken kann, immer sind es Höhepunkte, höfische Empfänge und
Feste, an denen gestochen, geturnieret und getanzt wird, ja es fehlen dem Er¬
zähler die Worte, um die "Höflichkeit" der Szene zu beschreiben. So auch bei
inneren Vorgängen: alle Tugenden des adeligen (edlen) Menschen werden
am Helden vollkömmlich erfunden, und manches Ereignis ist so traurig,
daß es der Autor "vor Mitleiden nicht denken noch beschreiben kann".
Nicht selten tritt der Erzähler mit solchen persönlichen Bemerkungen in die Ge¬
schichte, er bringt Vergleiche und Bilder bei, wie ". . . als man gemeiniglich
saget, gleich und gleich gesellt sich gern, also geschah auch da" oder "wenn die
Sonne am schönsten scheint, pflegen erfahrene Seeleute am ehesten den Sturm
zu fürchten ..." Der Erzähler apostrophiert den Helden, er apostrophiert die
Leser, zumal wenn er überraschende Ereignisse schildert ("mögt ihr wohl glauben,
daß . . ."), er apostrophiert Gott im Himmel, der solche Schmerzen über
die Welt kommen lasse. Er gibt moralische Nutzanwendungen, am liebsten am
Schlüsse der Geschichte: die poetische Gerechtigkeit waltet bereits.

Seelenvorgänge in den handelnden Personen werden ausführlich geschildert
und äußere Gebärden damit in Einklang gebracht ("er erschrak von Grund
seines Herzens, daß er schier in Unmacht gefallen wär, und mit großem Jammer
sprach er . . ."); Beiwörter geben die vom Autor gewünschte Auffassung. Die
Vorliebe fürs Epitheton ist schon sehr ausgeprägt. Es schmückt in typischer


Altnordische und altdeutsche Prosa

Nicht die Freude am Neuen und Unerwartetem gibt den Ausschlag, es ist
Vergnügen am bekannten, längstvertrauten Stoff; das bezeugen schon die aus¬
führlichen Kapitelüberschriften, die dem Gang der Handlung mit einer kurzen
Inhaltsangabe vorgreifen. Das Prinzip des erhabenen, unantastbaren, wenn
auch nicht historischen Stoffes verbindet die Saga mit den Volksbüchern. Der
überkommene Stoff wird umgemodelt wiedergegeben, es wird weder psychologisch
gebeutelt, noch werden neue überraschende Wendungen eingeschaltet, es wird
nichts bewußt erfunden, kurz, es mangeln alle jene Zutaten, denen wir heute
den Genuß am bekannten Stoff allein danken wollen. Wenn sich der Stoff
gleichwohl wandelt, wenn einzelnes ausgesiebt wird, anderes hinzutritt, tut das
die Überlieferung, denn die Stoffe werden mündlich weitergegeben und entwickeln
sich organisch; auch die Volksbücher sind zunächst noch zum Vorlesen bestimmt,
auch sie sind anonym wie die Saga.

Die überzeugende Realität der Jsländergeschichten darf man freilich in den
Volksbüchern nicht suchen; die Darstellung wahrer Vorgänge ist ja nicht beab¬
sichtigt. Mit vielen Märchenmotiven ist viel Märchenstimmung übernommen, die
Häufung typischer Zahlen z. B. ist dafür bezeichnend. Die Ereignisse spielen
auf einem allgemeinen Schauplatz, immerhin wird mit phantastischen geographischen
Begriffen geschickt genug operiert, um eine Art poetisch genügender Anschaulichkeit
zu erreichen. Ein Erbe des Ritterromans und des Märchens ist die Steigerung
des jeweiligen Einzelfalles: mit aller Schönheit und Köstlichkeit ist die gerne
beschriebene Kleidung und der Schmuck geziert, die Situation ist die schönste,
die man sich denken kann, immer sind es Höhepunkte, höfische Empfänge und
Feste, an denen gestochen, geturnieret und getanzt wird, ja es fehlen dem Er¬
zähler die Worte, um die „Höflichkeit" der Szene zu beschreiben. So auch bei
inneren Vorgängen: alle Tugenden des adeligen (edlen) Menschen werden
am Helden vollkömmlich erfunden, und manches Ereignis ist so traurig,
daß es der Autor „vor Mitleiden nicht denken noch beschreiben kann".
Nicht selten tritt der Erzähler mit solchen persönlichen Bemerkungen in die Ge¬
schichte, er bringt Vergleiche und Bilder bei, wie „. . . als man gemeiniglich
saget, gleich und gleich gesellt sich gern, also geschah auch da" oder „wenn die
Sonne am schönsten scheint, pflegen erfahrene Seeleute am ehesten den Sturm
zu fürchten ..." Der Erzähler apostrophiert den Helden, er apostrophiert die
Leser, zumal wenn er überraschende Ereignisse schildert („mögt ihr wohl glauben,
daß . . ."), er apostrophiert Gott im Himmel, der solche Schmerzen über
die Welt kommen lasse. Er gibt moralische Nutzanwendungen, am liebsten am
Schlüsse der Geschichte: die poetische Gerechtigkeit waltet bereits.

Seelenvorgänge in den handelnden Personen werden ausführlich geschildert
und äußere Gebärden damit in Einklang gebracht („er erschrak von Grund
seines Herzens, daß er schier in Unmacht gefallen wär, und mit großem Jammer
sprach er . . ."); Beiwörter geben die vom Autor gewünschte Auffassung. Die
Vorliebe fürs Epitheton ist schon sehr ausgeprägt. Es schmückt in typischer


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[0127] Altnordische und altdeutsche Prosa Nicht die Freude am Neuen und Unerwartetem gibt den Ausschlag, es ist Vergnügen am bekannten, längstvertrauten Stoff; das bezeugen schon die aus¬ führlichen Kapitelüberschriften, die dem Gang der Handlung mit einer kurzen Inhaltsangabe vorgreifen. Das Prinzip des erhabenen, unantastbaren, wenn auch nicht historischen Stoffes verbindet die Saga mit den Volksbüchern. Der überkommene Stoff wird umgemodelt wiedergegeben, es wird weder psychologisch gebeutelt, noch werden neue überraschende Wendungen eingeschaltet, es wird nichts bewußt erfunden, kurz, es mangeln alle jene Zutaten, denen wir heute den Genuß am bekannten Stoff allein danken wollen. Wenn sich der Stoff gleichwohl wandelt, wenn einzelnes ausgesiebt wird, anderes hinzutritt, tut das die Überlieferung, denn die Stoffe werden mündlich weitergegeben und entwickeln sich organisch; auch die Volksbücher sind zunächst noch zum Vorlesen bestimmt, auch sie sind anonym wie die Saga. Die überzeugende Realität der Jsländergeschichten darf man freilich in den Volksbüchern nicht suchen; die Darstellung wahrer Vorgänge ist ja nicht beab¬ sichtigt. Mit vielen Märchenmotiven ist viel Märchenstimmung übernommen, die Häufung typischer Zahlen z. B. ist dafür bezeichnend. Die Ereignisse spielen auf einem allgemeinen Schauplatz, immerhin wird mit phantastischen geographischen Begriffen geschickt genug operiert, um eine Art poetisch genügender Anschaulichkeit zu erreichen. Ein Erbe des Ritterromans und des Märchens ist die Steigerung des jeweiligen Einzelfalles: mit aller Schönheit und Köstlichkeit ist die gerne beschriebene Kleidung und der Schmuck geziert, die Situation ist die schönste, die man sich denken kann, immer sind es Höhepunkte, höfische Empfänge und Feste, an denen gestochen, geturnieret und getanzt wird, ja es fehlen dem Er¬ zähler die Worte, um die „Höflichkeit" der Szene zu beschreiben. So auch bei inneren Vorgängen: alle Tugenden des adeligen (edlen) Menschen werden am Helden vollkömmlich erfunden, und manches Ereignis ist so traurig, daß es der Autor „vor Mitleiden nicht denken noch beschreiben kann". Nicht selten tritt der Erzähler mit solchen persönlichen Bemerkungen in die Ge¬ schichte, er bringt Vergleiche und Bilder bei, wie „. . . als man gemeiniglich saget, gleich und gleich gesellt sich gern, also geschah auch da" oder „wenn die Sonne am schönsten scheint, pflegen erfahrene Seeleute am ehesten den Sturm zu fürchten ..." Der Erzähler apostrophiert den Helden, er apostrophiert die Leser, zumal wenn er überraschende Ereignisse schildert („mögt ihr wohl glauben, daß . . ."), er apostrophiert Gott im Himmel, der solche Schmerzen über die Welt kommen lasse. Er gibt moralische Nutzanwendungen, am liebsten am Schlüsse der Geschichte: die poetische Gerechtigkeit waltet bereits. Seelenvorgänge in den handelnden Personen werden ausführlich geschildert und äußere Gebärden damit in Einklang gebracht („er erschrak von Grund seines Herzens, daß er schier in Unmacht gefallen wär, und mit großem Jammer sprach er . . ."); Beiwörter geben die vom Autor gewünschte Auffassung. Die Vorliebe fürs Epitheton ist schon sehr ausgeprägt. Es schmückt in typischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/127>, abgerufen am 15.06.2024.