Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die erste Ausstellung der Berliner Freien Sezession

und die Beschränkung auf den Augenblickseindruck die Komposition aufgelöst
worden, weshalb man denn auch die Impressionisten mit viel Berechtigung
Meister der Skizze genannt hat. Man versuchte es mit der Annäherung an
die Dekoration, endete aber in Leere. Dieser Leere nun sollte sowohl nach
der stofflichen wie nach der inhaltlichen Seite abgeholfen werden, dort strebte
man nach Verinnerlichung, hier nach Konstituierung der Form. Was van Gogh
zur Verinnerlichung des Impressionismus getan hat, das habe ich schon neulich
bei Besprechung des Herbstsalons (Grenzboten 1913, Ur. 52) auseinander gesetzt:
er sieht wieder in das Innere der Dinge, verleiht ihnen ein Eigenleben. Doch
nun dauert es nicht lange und die Dinge werden allzu lebendig, in eine Welt
voll überlebendiger Einzelwesen fühlt sich der Mensch versetzt, wie ein Kind
steht er diesen Dingen gegenüber, die bald erschreckend, bald anheimelnd auf
ihn einwirken. Nicht zufällig beschäftigt sich zu gleicher Zeit die Psychologie
so eifrig mit dem aufnehmenden Kinde, der Mensch ist selber zum Kinde
geworden, das sich alle Dinge neu erschaffen muß und sich erstaunend oder
zagend, jubelnd oder erschrocken den lebengewinnenden Einzeldingen gegen¬
über sieht.

Dieses Kindhafte der modernen Kunst -- der Terminus soll nichts Ironisches
ausdrücken -- zeigt sich in der Ausstellung recht deutlich. Wenn Pissarro das
Gewühl der Straße malen will, so gibt er uns ein Bild aus der Vogel¬
perspektive; Max Beckmann stellt uns auf die Straße selbst mitten unter das
Gewühl lebensgroßer Gestalten. Da haben wir also das neugierige Dicht¬
herantreten des Kindes, das sich auch in der Kämpferszene von Bals zeigt.
Aus solchem Hinzudrängen gewinnen wir sehr lebhaft, aber in merkwürdiger
Weise aus Wesentlichen und scheinbar Nebensächlichem assoziativ zusammen¬
gesetzte Eindrücke, deren sich jeder Mensch aus der Kindheit erinnern wird.
Schon Liebermanns Korsobild ist keineswegs eine bloße Bewegungsskizze mehr,
sondern gibt eine sehr tief wurzelnde Augenblicksstimmung, noch deutlicher tritt
dieses Prinzip in Le Beaus schöner Landschaft aus Südfrankreich hervor. Vorn
links ein paar Zweige mit grellgelben Zitronen, dahinter leuchtend rote Blüten.
Der Vordergrund fällt steil ab gegen das blaue Meer, dessen Spiegelsonne
mild überschnitten wird durch weiße Baumsilhouetten, im Mittelgrunde wird es
durchschnitten von einem grätig vorspringenden Hügelzug mit braunem Gestein
und blauen Pflanzenmassen, nach rechts hin trägt es in weiter Ferne zwei
weiße Segel, und verschwimmt endlich mit dem Himmel zu einem ununterscheid-
baren Ganzen. Also auch hier das kleine Zufällige, aber Typische und Ge¬
liebte mit dem Großen, Weiten assoziativ verbunden. Eine andere Seite dieses
Kindhaften in der neuen Kunst repräsentieren die scheinbar verrückt gewordenen
Töpfe des Stillebens von Schmidt-Rottluff: das ist das Erschrecken des Kindes
vor leblosen Gegenständen, das ja auch in der Literatur (siehe Romain Rollands
"Jean Christophe") behandelt worden ist. Oder man nehme die kleine Land¬
schaft von Zak. Eine Wasserfläche, eine Brücke, drei oder vier Häuser, eben-


Die erste Ausstellung der Berliner Freien Sezession

und die Beschränkung auf den Augenblickseindruck die Komposition aufgelöst
worden, weshalb man denn auch die Impressionisten mit viel Berechtigung
Meister der Skizze genannt hat. Man versuchte es mit der Annäherung an
die Dekoration, endete aber in Leere. Dieser Leere nun sollte sowohl nach
der stofflichen wie nach der inhaltlichen Seite abgeholfen werden, dort strebte
man nach Verinnerlichung, hier nach Konstituierung der Form. Was van Gogh
zur Verinnerlichung des Impressionismus getan hat, das habe ich schon neulich
bei Besprechung des Herbstsalons (Grenzboten 1913, Ur. 52) auseinander gesetzt:
er sieht wieder in das Innere der Dinge, verleiht ihnen ein Eigenleben. Doch
nun dauert es nicht lange und die Dinge werden allzu lebendig, in eine Welt
voll überlebendiger Einzelwesen fühlt sich der Mensch versetzt, wie ein Kind
steht er diesen Dingen gegenüber, die bald erschreckend, bald anheimelnd auf
ihn einwirken. Nicht zufällig beschäftigt sich zu gleicher Zeit die Psychologie
so eifrig mit dem aufnehmenden Kinde, der Mensch ist selber zum Kinde
geworden, das sich alle Dinge neu erschaffen muß und sich erstaunend oder
zagend, jubelnd oder erschrocken den lebengewinnenden Einzeldingen gegen¬
über sieht.

Dieses Kindhafte der modernen Kunst — der Terminus soll nichts Ironisches
ausdrücken — zeigt sich in der Ausstellung recht deutlich. Wenn Pissarro das
Gewühl der Straße malen will, so gibt er uns ein Bild aus der Vogel¬
perspektive; Max Beckmann stellt uns auf die Straße selbst mitten unter das
Gewühl lebensgroßer Gestalten. Da haben wir also das neugierige Dicht¬
herantreten des Kindes, das sich auch in der Kämpferszene von Bals zeigt.
Aus solchem Hinzudrängen gewinnen wir sehr lebhaft, aber in merkwürdiger
Weise aus Wesentlichen und scheinbar Nebensächlichem assoziativ zusammen¬
gesetzte Eindrücke, deren sich jeder Mensch aus der Kindheit erinnern wird.
Schon Liebermanns Korsobild ist keineswegs eine bloße Bewegungsskizze mehr,
sondern gibt eine sehr tief wurzelnde Augenblicksstimmung, noch deutlicher tritt
dieses Prinzip in Le Beaus schöner Landschaft aus Südfrankreich hervor. Vorn
links ein paar Zweige mit grellgelben Zitronen, dahinter leuchtend rote Blüten.
Der Vordergrund fällt steil ab gegen das blaue Meer, dessen Spiegelsonne
mild überschnitten wird durch weiße Baumsilhouetten, im Mittelgrunde wird es
durchschnitten von einem grätig vorspringenden Hügelzug mit braunem Gestein
und blauen Pflanzenmassen, nach rechts hin trägt es in weiter Ferne zwei
weiße Segel, und verschwimmt endlich mit dem Himmel zu einem ununterscheid-
baren Ganzen. Also auch hier das kleine Zufällige, aber Typische und Ge¬
liebte mit dem Großen, Weiten assoziativ verbunden. Eine andere Seite dieses
Kindhaften in der neuen Kunst repräsentieren die scheinbar verrückt gewordenen
Töpfe des Stillebens von Schmidt-Rottluff: das ist das Erschrecken des Kindes
vor leblosen Gegenständen, das ja auch in der Literatur (siehe Romain Rollands
„Jean Christophe") behandelt worden ist. Oder man nehme die kleine Land¬
schaft von Zak. Eine Wasserfläche, eine Brücke, drei oder vier Häuser, eben-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328247"/>
          <fw type="header" place="top"> Die erste Ausstellung der Berliner Freien Sezession</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_660" prev="#ID_659"> und die Beschränkung auf den Augenblickseindruck die Komposition aufgelöst<lb/>
worden, weshalb man denn auch die Impressionisten mit viel Berechtigung<lb/>
Meister der Skizze genannt hat. Man versuchte es mit der Annäherung an<lb/>
die Dekoration, endete aber in Leere. Dieser Leere nun sollte sowohl nach<lb/>
der stofflichen wie nach der inhaltlichen Seite abgeholfen werden, dort strebte<lb/>
man nach Verinnerlichung, hier nach Konstituierung der Form. Was van Gogh<lb/>
zur Verinnerlichung des Impressionismus getan hat, das habe ich schon neulich<lb/>
bei Besprechung des Herbstsalons (Grenzboten 1913, Ur. 52) auseinander gesetzt:<lb/>
er sieht wieder in das Innere der Dinge, verleiht ihnen ein Eigenleben. Doch<lb/>
nun dauert es nicht lange und die Dinge werden allzu lebendig, in eine Welt<lb/>
voll überlebendiger Einzelwesen fühlt sich der Mensch versetzt, wie ein Kind<lb/>
steht er diesen Dingen gegenüber, die bald erschreckend, bald anheimelnd auf<lb/>
ihn einwirken. Nicht zufällig beschäftigt sich zu gleicher Zeit die Psychologie<lb/>
so eifrig mit dem aufnehmenden Kinde, der Mensch ist selber zum Kinde<lb/>
geworden, das sich alle Dinge neu erschaffen muß und sich erstaunend oder<lb/>
zagend, jubelnd oder erschrocken den lebengewinnenden Einzeldingen gegen¬<lb/>
über sieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_661" next="#ID_662"> Dieses Kindhafte der modernen Kunst &#x2014; der Terminus soll nichts Ironisches<lb/>
ausdrücken &#x2014; zeigt sich in der Ausstellung recht deutlich. Wenn Pissarro das<lb/>
Gewühl der Straße malen will, so gibt er uns ein Bild aus der Vogel¬<lb/>
perspektive; Max Beckmann stellt uns auf die Straße selbst mitten unter das<lb/>
Gewühl lebensgroßer Gestalten. Da haben wir also das neugierige Dicht¬<lb/>
herantreten des Kindes, das sich auch in der Kämpferszene von Bals zeigt.<lb/>
Aus solchem Hinzudrängen gewinnen wir sehr lebhaft, aber in merkwürdiger<lb/>
Weise aus Wesentlichen und scheinbar Nebensächlichem assoziativ zusammen¬<lb/>
gesetzte Eindrücke, deren sich jeder Mensch aus der Kindheit erinnern wird.<lb/>
Schon Liebermanns Korsobild ist keineswegs eine bloße Bewegungsskizze mehr,<lb/>
sondern gibt eine sehr tief wurzelnde Augenblicksstimmung, noch deutlicher tritt<lb/>
dieses Prinzip in Le Beaus schöner Landschaft aus Südfrankreich hervor. Vorn<lb/>
links ein paar Zweige mit grellgelben Zitronen, dahinter leuchtend rote Blüten.<lb/>
Der Vordergrund fällt steil ab gegen das blaue Meer, dessen Spiegelsonne<lb/>
mild überschnitten wird durch weiße Baumsilhouetten, im Mittelgrunde wird es<lb/>
durchschnitten von einem grätig vorspringenden Hügelzug mit braunem Gestein<lb/>
und blauen Pflanzenmassen, nach rechts hin trägt es in weiter Ferne zwei<lb/>
weiße Segel, und verschwimmt endlich mit dem Himmel zu einem ununterscheid-<lb/>
baren Ganzen. Also auch hier das kleine Zufällige, aber Typische und Ge¬<lb/>
liebte mit dem Großen, Weiten assoziativ verbunden. Eine andere Seite dieses<lb/>
Kindhaften in der neuen Kunst repräsentieren die scheinbar verrückt gewordenen<lb/>
Töpfe des Stillebens von Schmidt-Rottluff: das ist das Erschrecken des Kindes<lb/>
vor leblosen Gegenständen, das ja auch in der Literatur (siehe Romain Rollands<lb/>
&#x201E;Jean Christophe") behandelt worden ist. Oder man nehme die kleine Land¬<lb/>
schaft von Zak.  Eine Wasserfläche, eine Brücke, drei oder vier Häuser, eben-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0147] Die erste Ausstellung der Berliner Freien Sezession und die Beschränkung auf den Augenblickseindruck die Komposition aufgelöst worden, weshalb man denn auch die Impressionisten mit viel Berechtigung Meister der Skizze genannt hat. Man versuchte es mit der Annäherung an die Dekoration, endete aber in Leere. Dieser Leere nun sollte sowohl nach der stofflichen wie nach der inhaltlichen Seite abgeholfen werden, dort strebte man nach Verinnerlichung, hier nach Konstituierung der Form. Was van Gogh zur Verinnerlichung des Impressionismus getan hat, das habe ich schon neulich bei Besprechung des Herbstsalons (Grenzboten 1913, Ur. 52) auseinander gesetzt: er sieht wieder in das Innere der Dinge, verleiht ihnen ein Eigenleben. Doch nun dauert es nicht lange und die Dinge werden allzu lebendig, in eine Welt voll überlebendiger Einzelwesen fühlt sich der Mensch versetzt, wie ein Kind steht er diesen Dingen gegenüber, die bald erschreckend, bald anheimelnd auf ihn einwirken. Nicht zufällig beschäftigt sich zu gleicher Zeit die Psychologie so eifrig mit dem aufnehmenden Kinde, der Mensch ist selber zum Kinde geworden, das sich alle Dinge neu erschaffen muß und sich erstaunend oder zagend, jubelnd oder erschrocken den lebengewinnenden Einzeldingen gegen¬ über sieht. Dieses Kindhafte der modernen Kunst — der Terminus soll nichts Ironisches ausdrücken — zeigt sich in der Ausstellung recht deutlich. Wenn Pissarro das Gewühl der Straße malen will, so gibt er uns ein Bild aus der Vogel¬ perspektive; Max Beckmann stellt uns auf die Straße selbst mitten unter das Gewühl lebensgroßer Gestalten. Da haben wir also das neugierige Dicht¬ herantreten des Kindes, das sich auch in der Kämpferszene von Bals zeigt. Aus solchem Hinzudrängen gewinnen wir sehr lebhaft, aber in merkwürdiger Weise aus Wesentlichen und scheinbar Nebensächlichem assoziativ zusammen¬ gesetzte Eindrücke, deren sich jeder Mensch aus der Kindheit erinnern wird. Schon Liebermanns Korsobild ist keineswegs eine bloße Bewegungsskizze mehr, sondern gibt eine sehr tief wurzelnde Augenblicksstimmung, noch deutlicher tritt dieses Prinzip in Le Beaus schöner Landschaft aus Südfrankreich hervor. Vorn links ein paar Zweige mit grellgelben Zitronen, dahinter leuchtend rote Blüten. Der Vordergrund fällt steil ab gegen das blaue Meer, dessen Spiegelsonne mild überschnitten wird durch weiße Baumsilhouetten, im Mittelgrunde wird es durchschnitten von einem grätig vorspringenden Hügelzug mit braunem Gestein und blauen Pflanzenmassen, nach rechts hin trägt es in weiter Ferne zwei weiße Segel, und verschwimmt endlich mit dem Himmel zu einem ununterscheid- baren Ganzen. Also auch hier das kleine Zufällige, aber Typische und Ge¬ liebte mit dem Großen, Weiten assoziativ verbunden. Eine andere Seite dieses Kindhaften in der neuen Kunst repräsentieren die scheinbar verrückt gewordenen Töpfe des Stillebens von Schmidt-Rottluff: das ist das Erschrecken des Kindes vor leblosen Gegenständen, das ja auch in der Literatur (siehe Romain Rollands „Jean Christophe") behandelt worden ist. Oder man nehme die kleine Land¬ schaft von Zak. Eine Wasserfläche, eine Brücke, drei oder vier Häuser, eben-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/147
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/147>, abgerufen am 15.06.2024.