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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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vom deutschen Stil

Weisung: "er" eine kleine Monographie gewidmet ist, aus der man mit besonderem
Interesse entnehmen wird, daß auch Goethe in seinem ausgeprägten Altersstil
diese Wandlung mitgemacht hat.

Wenn wir eben den "papierener Stil" als eine pedantische Entartung
des logischen Genauigkeitsbedürfnisses erklärten, so liegt darin schon der Vor¬
behalt, daß seine Bekämpfung nur auf den Gebieten notwendig und be¬
rechtigt ist, wo eben dieses Bedürfnis ganz und gar nicht natürlich ist, wie in
der Poesie und im praktischen Leben. Bedenklich scheint es uns. daß Schroeder
vor dieser Schranke nicht Halt macht und auch an dem wissenschaftlichen Stil
die einseitig verstandesmüßige Bildung verfolgt, die er. ohne seine eigenste Be¬
stimmung zu verleugnen, schlechterdings nicht entbehren kann. Hat doch auch
die Wissenschaft erst mit dem "papierener Stil" angefangen und ihre Popula¬
risierung seine kritiklose Verbreitung gefördert, die ihn allein lächerlich macht. Wir
haben darum schon einmal in diesen Blättern (Jahrgang 1913, Heft 2: "Das selt¬
enste Fremdwort") davor gewarnt, kurzweg "den" Stil in allgemeingültige
Regeln zwängen zu wollen, und der wissenschaftlichen Sphäre einen eigenen Stil
zugewiesen. Es ist eine merkwürdigerweise fast nirgends empfundene Ungerech¬
tigkeit, mit Maßstäben, die man an Goethe einerseits oder "der Mutter, der
Schwester, der Geliebten, der Tischnachbarin" (S. 44) anderseits gebildet hat,
an -- sagen wir -- Ranke heranzutreten, wie es Schroeder tut. Kein größerer
Gegensatz ist vielleicht denkbar zwischen dem Schroederschen Ideal des "Un¬
papierenen" und Kant. Und doch, wer sich in diesen beispiellos schwerblütigen,
ebenso lebensfremden wie brutal kunstlosen Stil des einsamen Philosophen ein¬
gelesen hat, dem wird es klar, daß sich hier abseits aller konventionellen For¬
derungen eine eigene Sprache aus Not und Kraft ans Licht gerungen hat, die
Stil und Regel in sich selber trägt.

Noch an einem anderen Punkte fordert die Gesetzesfreude des Antipapyrus
den Widerspruch heraus. Den Beschluß seines Buches bildet nämlich eine etwas
lose angefügte Jeremiade über den Verfall des Verständnisses für die Ver¬
werflichkeit des Hiatus, jenes poetischen Kunstfehlers, zwei Vokale am Ausgang
und Anfang benachbarter Wörter zusammenstoßen zu lassen (z. B. "leugne ich",
"wie ein"). Noch in der klassischen Zeit wurde er mit Fleiß umgangen, wie
das Schroeder besonders an der Umarbeitung von Goethes "Iphigenie" sehr
dankenswert nachweist. Trotz dieses respektablen Kronzeugen stehe ich aber nicht
an, die Empfindlichkeit gegen den Hiatus als eine der zahlreichen Einseitigkeiten
des weltbürgerlichen Klassizismus zu bezeichnen, der sich seine Ideale gewaltsam
aus dem Hellentum holen zu müssen glaubte. Dort hatte allerdings die Ver¬
meidung unnötiger Vokalzusammenstöße ihren guten Sinn, weil das tonvolle
Griechische überreich an Vokalen in jeder Stellung ist. Aber gerade daran hat
der Deutsche einen so entschiedenen Mangel, daß schon der bissige Voltaire ihm
weniger Konsonanten -- und mehr Geist wünschen konnte. Wenn Schroeder hier
von "ehernen Gesetzen" (S. 100) spricht, so straft ihn die Entwicklung der


vom deutschen Stil

Weisung: „er" eine kleine Monographie gewidmet ist, aus der man mit besonderem
Interesse entnehmen wird, daß auch Goethe in seinem ausgeprägten Altersstil
diese Wandlung mitgemacht hat.

Wenn wir eben den „papierener Stil" als eine pedantische Entartung
des logischen Genauigkeitsbedürfnisses erklärten, so liegt darin schon der Vor¬
behalt, daß seine Bekämpfung nur auf den Gebieten notwendig und be¬
rechtigt ist, wo eben dieses Bedürfnis ganz und gar nicht natürlich ist, wie in
der Poesie und im praktischen Leben. Bedenklich scheint es uns. daß Schroeder
vor dieser Schranke nicht Halt macht und auch an dem wissenschaftlichen Stil
die einseitig verstandesmüßige Bildung verfolgt, die er. ohne seine eigenste Be¬
stimmung zu verleugnen, schlechterdings nicht entbehren kann. Hat doch auch
die Wissenschaft erst mit dem „papierener Stil" angefangen und ihre Popula¬
risierung seine kritiklose Verbreitung gefördert, die ihn allein lächerlich macht. Wir
haben darum schon einmal in diesen Blättern (Jahrgang 1913, Heft 2: „Das selt¬
enste Fremdwort") davor gewarnt, kurzweg „den" Stil in allgemeingültige
Regeln zwängen zu wollen, und der wissenschaftlichen Sphäre einen eigenen Stil
zugewiesen. Es ist eine merkwürdigerweise fast nirgends empfundene Ungerech¬
tigkeit, mit Maßstäben, die man an Goethe einerseits oder „der Mutter, der
Schwester, der Geliebten, der Tischnachbarin" (S. 44) anderseits gebildet hat,
an — sagen wir — Ranke heranzutreten, wie es Schroeder tut. Kein größerer
Gegensatz ist vielleicht denkbar zwischen dem Schroederschen Ideal des „Un¬
papierenen" und Kant. Und doch, wer sich in diesen beispiellos schwerblütigen,
ebenso lebensfremden wie brutal kunstlosen Stil des einsamen Philosophen ein¬
gelesen hat, dem wird es klar, daß sich hier abseits aller konventionellen For¬
derungen eine eigene Sprache aus Not und Kraft ans Licht gerungen hat, die
Stil und Regel in sich selber trägt.

Noch an einem anderen Punkte fordert die Gesetzesfreude des Antipapyrus
den Widerspruch heraus. Den Beschluß seines Buches bildet nämlich eine etwas
lose angefügte Jeremiade über den Verfall des Verständnisses für die Ver¬
werflichkeit des Hiatus, jenes poetischen Kunstfehlers, zwei Vokale am Ausgang
und Anfang benachbarter Wörter zusammenstoßen zu lassen (z. B. „leugne ich",
„wie ein"). Noch in der klassischen Zeit wurde er mit Fleiß umgangen, wie
das Schroeder besonders an der Umarbeitung von Goethes „Iphigenie" sehr
dankenswert nachweist. Trotz dieses respektablen Kronzeugen stehe ich aber nicht
an, die Empfindlichkeit gegen den Hiatus als eine der zahlreichen Einseitigkeiten
des weltbürgerlichen Klassizismus zu bezeichnen, der sich seine Ideale gewaltsam
aus dem Hellentum holen zu müssen glaubte. Dort hatte allerdings die Ver¬
meidung unnötiger Vokalzusammenstöße ihren guten Sinn, weil das tonvolle
Griechische überreich an Vokalen in jeder Stellung ist. Aber gerade daran hat
der Deutsche einen so entschiedenen Mangel, daß schon der bissige Voltaire ihm
weniger Konsonanten — und mehr Geist wünschen konnte. Wenn Schroeder hier
von „ehernen Gesetzen" (S. 100) spricht, so straft ihn die Entwicklung der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/190>, abgerufen am 15.06.2024.