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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Vom deutschen Stil

Meyer das Verhältnis beider zur Poetik. Wenn er ihnen hauptsächlich die
Formen zuweist, "die mit bewußter Absicht verwandt werden" (S. 2), so ist
diese Unterscheidung weder scharf noch zutreffend: Was wäre Poesie ohne
bewußte Form? Noch auch nur notwendig: Meyer selbst bezeichnet es als einen
Punkt seiner Aufgabe, den volkstümlichen Hintergrund aller jetzt als poetisch
empfundenen Sprachmittel aufzuzeigen, und eine Stilistik ohne poetische Beispiele
ist ganz undenkbar. Tatsächlich stellt die Poetik wie die Rhetorik einen Spezial-
fall der Stilistik dar. Wie diese eine Stilistik der mündlichen Rede, ist jene eine
Stilistik der gebundenen Rede. Dieser Einsicht wird man sich um so weniger
verschließen können, als man heute allgemein zu den Regeln der Stilistik den
freien Rhythmus zu rechnen beginnt, der dann in der Poetik eben nur unter den
besonderen Bedingungen des festen Rhythmus erscheint.

Anderseits erfordert die Einbeziehung der Stilistik in die theoretische Sprach¬
wissenschaft, ihr innerhalb der "Grammatik überhaupt" (S. 3) eine Stelle an¬
zuweisen. Dafür scheint uns nun Meyer eine so einfache und ansprechende
Lösung gefunden zu haben, daß wir sein Schema der grammatischen Disziplinen
hierhersetzen wollen:



Stilistik ist also vergleichende Syntax (oder Satzlehre). Mit dieser syntak¬
tischen Grundlage ist auch die Einteilung des Buches gegeben, die dem Aufbau
der Sprache vom Wort zum Satz, zur Periode, endlich zum Gesamtcharakter
folgt. Jeder dieser natürlichen Abschnitte wird dann wieder formal und in¬
haltlich abgehandelt. Es darf freilich nicht verschwiegen werden, daß die Ein¬
ordnung des Stoffes in dieses feste Gerüst nicht ohne Härten und Zerreißungen
abgegangen ist. So läßt der Fortschritt von der "Wortverbindung" zum Satz
nur eine willkürliche Unterscheidung zu, ebenso wie formale und inhaltliche
Momente niemals restlos voneinander zu trennen sind. Die säuberliche Zerlegung
in unendliche Paragraphen ist aber die einzigste unglückliche Konzession an die
Schulzwecke des Buches. Im übrigen hat es dieser Bestimmung sehr wertvolle
Eigenschaften zu danken. Vor allem ist es staunenswert, wie knapp und dabei
erschöpfend der Verfasser die minutiösesten Details auf 250 Seiten zusammen¬
drängt, wie methodisch und ungezwungen der Aufbau sich vollzieht. Obgleich
sich Meyer meist auf ein charakteristisches Beispiel beschränkt, sind seine Aus-
führungen doch stets lebendig und lesbar. Denn er versteht nicht nur über
Stil zu schreiben, sondern selber welchen zu haben. Klar, scharf, oft mit
zwingender Kraft fügen sich ihm die Worte zu Gedanken, die Gedanken zu
Bildern. Er hat den leichten Schwung gesättigter Anschauung, die über dem


Vom deutschen Stil

Meyer das Verhältnis beider zur Poetik. Wenn er ihnen hauptsächlich die
Formen zuweist, „die mit bewußter Absicht verwandt werden" (S. 2), so ist
diese Unterscheidung weder scharf noch zutreffend: Was wäre Poesie ohne
bewußte Form? Noch auch nur notwendig: Meyer selbst bezeichnet es als einen
Punkt seiner Aufgabe, den volkstümlichen Hintergrund aller jetzt als poetisch
empfundenen Sprachmittel aufzuzeigen, und eine Stilistik ohne poetische Beispiele
ist ganz undenkbar. Tatsächlich stellt die Poetik wie die Rhetorik einen Spezial-
fall der Stilistik dar. Wie diese eine Stilistik der mündlichen Rede, ist jene eine
Stilistik der gebundenen Rede. Dieser Einsicht wird man sich um so weniger
verschließen können, als man heute allgemein zu den Regeln der Stilistik den
freien Rhythmus zu rechnen beginnt, der dann in der Poetik eben nur unter den
besonderen Bedingungen des festen Rhythmus erscheint.

Anderseits erfordert die Einbeziehung der Stilistik in die theoretische Sprach¬
wissenschaft, ihr innerhalb der „Grammatik überhaupt" (S. 3) eine Stelle an¬
zuweisen. Dafür scheint uns nun Meyer eine so einfache und ansprechende
Lösung gefunden zu haben, daß wir sein Schema der grammatischen Disziplinen
hierhersetzen wollen:



Stilistik ist also vergleichende Syntax (oder Satzlehre). Mit dieser syntak¬
tischen Grundlage ist auch die Einteilung des Buches gegeben, die dem Aufbau
der Sprache vom Wort zum Satz, zur Periode, endlich zum Gesamtcharakter
folgt. Jeder dieser natürlichen Abschnitte wird dann wieder formal und in¬
haltlich abgehandelt. Es darf freilich nicht verschwiegen werden, daß die Ein¬
ordnung des Stoffes in dieses feste Gerüst nicht ohne Härten und Zerreißungen
abgegangen ist. So läßt der Fortschritt von der „Wortverbindung" zum Satz
nur eine willkürliche Unterscheidung zu, ebenso wie formale und inhaltliche
Momente niemals restlos voneinander zu trennen sind. Die säuberliche Zerlegung
in unendliche Paragraphen ist aber die einzigste unglückliche Konzession an die
Schulzwecke des Buches. Im übrigen hat es dieser Bestimmung sehr wertvolle
Eigenschaften zu danken. Vor allem ist es staunenswert, wie knapp und dabei
erschöpfend der Verfasser die minutiösesten Details auf 250 Seiten zusammen¬
drängt, wie methodisch und ungezwungen der Aufbau sich vollzieht. Obgleich
sich Meyer meist auf ein charakteristisches Beispiel beschränkt, sind seine Aus-
führungen doch stets lebendig und lesbar. Denn er versteht nicht nur über
Stil zu schreiben, sondern selber welchen zu haben. Klar, scharf, oft mit
zwingender Kraft fügen sich ihm die Worte zu Gedanken, die Gedanken zu
Bildern. Er hat den leichten Schwung gesättigter Anschauung, die über dem


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[0192] Vom deutschen Stil Meyer das Verhältnis beider zur Poetik. Wenn er ihnen hauptsächlich die Formen zuweist, „die mit bewußter Absicht verwandt werden" (S. 2), so ist diese Unterscheidung weder scharf noch zutreffend: Was wäre Poesie ohne bewußte Form? Noch auch nur notwendig: Meyer selbst bezeichnet es als einen Punkt seiner Aufgabe, den volkstümlichen Hintergrund aller jetzt als poetisch empfundenen Sprachmittel aufzuzeigen, und eine Stilistik ohne poetische Beispiele ist ganz undenkbar. Tatsächlich stellt die Poetik wie die Rhetorik einen Spezial- fall der Stilistik dar. Wie diese eine Stilistik der mündlichen Rede, ist jene eine Stilistik der gebundenen Rede. Dieser Einsicht wird man sich um so weniger verschließen können, als man heute allgemein zu den Regeln der Stilistik den freien Rhythmus zu rechnen beginnt, der dann in der Poetik eben nur unter den besonderen Bedingungen des festen Rhythmus erscheint. Anderseits erfordert die Einbeziehung der Stilistik in die theoretische Sprach¬ wissenschaft, ihr innerhalb der „Grammatik überhaupt" (S. 3) eine Stelle an¬ zuweisen. Dafür scheint uns nun Meyer eine so einfache und ansprechende Lösung gefunden zu haben, daß wir sein Schema der grammatischen Disziplinen hierhersetzen wollen: Lehre von den Ele¬ menten und den umge¬ staltenden Faktorender Silbe des Wortes der fertigen Rede der sprachschaffendenbeschreibend Lautlehre Formenlehre Syntaxvergleichend Lautphysiologie Etymologie Stilistik AnschauungBedeutungslehre: Sprachphilosophie Stilistik ist also vergleichende Syntax (oder Satzlehre). Mit dieser syntak¬ tischen Grundlage ist auch die Einteilung des Buches gegeben, die dem Aufbau der Sprache vom Wort zum Satz, zur Periode, endlich zum Gesamtcharakter folgt. Jeder dieser natürlichen Abschnitte wird dann wieder formal und in¬ haltlich abgehandelt. Es darf freilich nicht verschwiegen werden, daß die Ein¬ ordnung des Stoffes in dieses feste Gerüst nicht ohne Härten und Zerreißungen abgegangen ist. So läßt der Fortschritt von der „Wortverbindung" zum Satz nur eine willkürliche Unterscheidung zu, ebenso wie formale und inhaltliche Momente niemals restlos voneinander zu trennen sind. Die säuberliche Zerlegung in unendliche Paragraphen ist aber die einzigste unglückliche Konzession an die Schulzwecke des Buches. Im übrigen hat es dieser Bestimmung sehr wertvolle Eigenschaften zu danken. Vor allem ist es staunenswert, wie knapp und dabei erschöpfend der Verfasser die minutiösesten Details auf 250 Seiten zusammen¬ drängt, wie methodisch und ungezwungen der Aufbau sich vollzieht. Obgleich sich Meyer meist auf ein charakteristisches Beispiel beschränkt, sind seine Aus- führungen doch stets lebendig und lesbar. Denn er versteht nicht nur über Stil zu schreiben, sondern selber welchen zu haben. Klar, scharf, oft mit zwingender Kraft fügen sich ihm die Worte zu Gedanken, die Gedanken zu Bildern. Er hat den leichten Schwung gesättigter Anschauung, die über dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/192>, abgerufen am 15.06.2024.