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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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vom deutschen Stil

Gegenstände steht. Aber diese Leichtigkeit ist Täuschung, wie das Kunstwerk die
Illusion erweckt, mühelos vollendet zu sein. Sie ist nur der Erfolg einer wahr¬
haft kyklopischen Bewältigung des Stoffes. So ist nicht nur aus den weitesten
Zeiträumen von Sophokles bis auf Liliencron das Material zusammengetragen,
sondern auch die Fachliteratur bis auf die letzten Erscheinungen in gedrängter
Fülle verarbeitet worden. So wach Meyer immer seine kritische Selbständigkeit
erhält, erfolgt seine Arbeit doch im steten Hinblick besonders auf die aus¬
ländische Forschung. Denn er wendet sich bewußt von der gewöhn¬
lichen, spekulativen Art der deutschen Stilistiken zur empirischen Be¬
handlung , wie sie die praktischeren Amerikaner und Franzosen vor¬
gebildet haben. Die Tatsachen sollen herrschen und nicht sich einer
vorgefaßten Theorie unterwerfen. Damit hat er für seine Untersuchung
eine einfache und die sicherste Methode gewonnen: die Stilmittel, wie und
wo sie uns nur entgegentreten, werden gesammelt, dann psychologisch erklärt,
historisch eingereiht, und zum Schlüsse erst normativ (gesetzgebend) ver¬
wertet (S. 2). Es leuchtet ein, daß dieser Weg, konsequent beschritten, zu
einem objektiven Ergebnis von wissenschaftlichem Wert führt. Und er bleibt
nicht nur Programm. Meyer bewährt eine seltene Weite des Gesichtskreises,
die ebenso inhaltlich Gegensätzliches mit Versöhnlichkeit umfaßt, wie sie das
Urteil sparsam und maßvoll erhält. Er weiß zu gut, daß "Vorschriften dem
Genius wenig helfen" (S. 58), und daß ein wahrhaftes Verständnis den "be¬
ständigen Veränderungen der Sprache und des Sprachgefühls" (S. 8) Rechnung
zu tragen hat. Freilich ist zu bedauern, daß der knappe Plan seines Buches
ihn diese historische Vergleichung nicht mehr hat ausbauen lassen. Wohltuend
aber ist die reife und immer willige Gerechtigkeit, die er den Tatsachen von
innen her, in ihrer stofflichen Bedingtheit entgegenbringt. Es ist für Stil¬
fanatiker wie Schroeder ein sehr lehrreiches Kapitel und vielleicht der Höhepunkt
der Meyerschen Stilistik, wie er aus der einheitlichen, syntaktischen Grundlage
der einfachsten Satztypen zehn verschiedene Stile entwickelt, je nach den inneren
Tendenzen des Themas. Wie er z. B. sich in das Wesen der Zeitung vertieft,
um von hier aus ihrem eigentümlichen, so oft und so blind angefeindeten Stil
nahezukommen, und wie er doch den Zusammenhang wahrt, indem er sie eng
an den Brief anschließt, das ist im besten Sinne modern gedacht. Aber auch
diese "Arten der Prosa" empfindet er wieder nur als Typen, die erst eine nach¬
trägliche Betrachtung herausgeschält hat, nicht als Normen, an die jeder Einzel-
fall gebunden wäre. Deshalb ist den "umgestaltenden Faktoren" hier zum
ersten Male ein letzter und bedeutender Abschnitt eingeräumt worden. Meyer
versteht darunter diejenigen besonderen, meist historischen oder individuellen Ein¬
flüsse, die, neben und nicht selten entgegen den allgemeinen Stilgrundlagen,
den formalen Regeln sowohl wie den stofflichen Bedingungen, bei der literarischen
Gestaltung wirksam sind und, weil sie in einer oder der anderen Weise
wirksam sein müssen, eine absolute Gesetzmäßigkeit nicht aufkommen lassen.


vom deutschen Stil

Gegenstände steht. Aber diese Leichtigkeit ist Täuschung, wie das Kunstwerk die
Illusion erweckt, mühelos vollendet zu sein. Sie ist nur der Erfolg einer wahr¬
haft kyklopischen Bewältigung des Stoffes. So ist nicht nur aus den weitesten
Zeiträumen von Sophokles bis auf Liliencron das Material zusammengetragen,
sondern auch die Fachliteratur bis auf die letzten Erscheinungen in gedrängter
Fülle verarbeitet worden. So wach Meyer immer seine kritische Selbständigkeit
erhält, erfolgt seine Arbeit doch im steten Hinblick besonders auf die aus¬
ländische Forschung. Denn er wendet sich bewußt von der gewöhn¬
lichen, spekulativen Art der deutschen Stilistiken zur empirischen Be¬
handlung , wie sie die praktischeren Amerikaner und Franzosen vor¬
gebildet haben. Die Tatsachen sollen herrschen und nicht sich einer
vorgefaßten Theorie unterwerfen. Damit hat er für seine Untersuchung
eine einfache und die sicherste Methode gewonnen: die Stilmittel, wie und
wo sie uns nur entgegentreten, werden gesammelt, dann psychologisch erklärt,
historisch eingereiht, und zum Schlüsse erst normativ (gesetzgebend) ver¬
wertet (S. 2). Es leuchtet ein, daß dieser Weg, konsequent beschritten, zu
einem objektiven Ergebnis von wissenschaftlichem Wert führt. Und er bleibt
nicht nur Programm. Meyer bewährt eine seltene Weite des Gesichtskreises,
die ebenso inhaltlich Gegensätzliches mit Versöhnlichkeit umfaßt, wie sie das
Urteil sparsam und maßvoll erhält. Er weiß zu gut, daß „Vorschriften dem
Genius wenig helfen" (S. 58), und daß ein wahrhaftes Verständnis den „be¬
ständigen Veränderungen der Sprache und des Sprachgefühls" (S. 8) Rechnung
zu tragen hat. Freilich ist zu bedauern, daß der knappe Plan seines Buches
ihn diese historische Vergleichung nicht mehr hat ausbauen lassen. Wohltuend
aber ist die reife und immer willige Gerechtigkeit, die er den Tatsachen von
innen her, in ihrer stofflichen Bedingtheit entgegenbringt. Es ist für Stil¬
fanatiker wie Schroeder ein sehr lehrreiches Kapitel und vielleicht der Höhepunkt
der Meyerschen Stilistik, wie er aus der einheitlichen, syntaktischen Grundlage
der einfachsten Satztypen zehn verschiedene Stile entwickelt, je nach den inneren
Tendenzen des Themas. Wie er z. B. sich in das Wesen der Zeitung vertieft,
um von hier aus ihrem eigentümlichen, so oft und so blind angefeindeten Stil
nahezukommen, und wie er doch den Zusammenhang wahrt, indem er sie eng
an den Brief anschließt, das ist im besten Sinne modern gedacht. Aber auch
diese „Arten der Prosa" empfindet er wieder nur als Typen, die erst eine nach¬
trägliche Betrachtung herausgeschält hat, nicht als Normen, an die jeder Einzel-
fall gebunden wäre. Deshalb ist den „umgestaltenden Faktoren" hier zum
ersten Male ein letzter und bedeutender Abschnitt eingeräumt worden. Meyer
versteht darunter diejenigen besonderen, meist historischen oder individuellen Ein¬
flüsse, die, neben und nicht selten entgegen den allgemeinen Stilgrundlagen,
den formalen Regeln sowohl wie den stofflichen Bedingungen, bei der literarischen
Gestaltung wirksam sind und, weil sie in einer oder der anderen Weise
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[0193] vom deutschen Stil Gegenstände steht. Aber diese Leichtigkeit ist Täuschung, wie das Kunstwerk die Illusion erweckt, mühelos vollendet zu sein. Sie ist nur der Erfolg einer wahr¬ haft kyklopischen Bewältigung des Stoffes. So ist nicht nur aus den weitesten Zeiträumen von Sophokles bis auf Liliencron das Material zusammengetragen, sondern auch die Fachliteratur bis auf die letzten Erscheinungen in gedrängter Fülle verarbeitet worden. So wach Meyer immer seine kritische Selbständigkeit erhält, erfolgt seine Arbeit doch im steten Hinblick besonders auf die aus¬ ländische Forschung. Denn er wendet sich bewußt von der gewöhn¬ lichen, spekulativen Art der deutschen Stilistiken zur empirischen Be¬ handlung , wie sie die praktischeren Amerikaner und Franzosen vor¬ gebildet haben. Die Tatsachen sollen herrschen und nicht sich einer vorgefaßten Theorie unterwerfen. Damit hat er für seine Untersuchung eine einfache und die sicherste Methode gewonnen: die Stilmittel, wie und wo sie uns nur entgegentreten, werden gesammelt, dann psychologisch erklärt, historisch eingereiht, und zum Schlüsse erst normativ (gesetzgebend) ver¬ wertet (S. 2). Es leuchtet ein, daß dieser Weg, konsequent beschritten, zu einem objektiven Ergebnis von wissenschaftlichem Wert führt. Und er bleibt nicht nur Programm. Meyer bewährt eine seltene Weite des Gesichtskreises, die ebenso inhaltlich Gegensätzliches mit Versöhnlichkeit umfaßt, wie sie das Urteil sparsam und maßvoll erhält. Er weiß zu gut, daß „Vorschriften dem Genius wenig helfen" (S. 58), und daß ein wahrhaftes Verständnis den „be¬ ständigen Veränderungen der Sprache und des Sprachgefühls" (S. 8) Rechnung zu tragen hat. Freilich ist zu bedauern, daß der knappe Plan seines Buches ihn diese historische Vergleichung nicht mehr hat ausbauen lassen. Wohltuend aber ist die reife und immer willige Gerechtigkeit, die er den Tatsachen von innen her, in ihrer stofflichen Bedingtheit entgegenbringt. Es ist für Stil¬ fanatiker wie Schroeder ein sehr lehrreiches Kapitel und vielleicht der Höhepunkt der Meyerschen Stilistik, wie er aus der einheitlichen, syntaktischen Grundlage der einfachsten Satztypen zehn verschiedene Stile entwickelt, je nach den inneren Tendenzen des Themas. Wie er z. B. sich in das Wesen der Zeitung vertieft, um von hier aus ihrem eigentümlichen, so oft und so blind angefeindeten Stil nahezukommen, und wie er doch den Zusammenhang wahrt, indem er sie eng an den Brief anschließt, das ist im besten Sinne modern gedacht. Aber auch diese „Arten der Prosa" empfindet er wieder nur als Typen, die erst eine nach¬ trägliche Betrachtung herausgeschält hat, nicht als Normen, an die jeder Einzel- fall gebunden wäre. Deshalb ist den „umgestaltenden Faktoren" hier zum ersten Male ein letzter und bedeutender Abschnitt eingeräumt worden. Meyer versteht darunter diejenigen besonderen, meist historischen oder individuellen Ein¬ flüsse, die, neben und nicht selten entgegen den allgemeinen Stilgrundlagen, den formalen Regeln sowohl wie den stofflichen Bedingungen, bei der literarischen Gestaltung wirksam sind und, weil sie in einer oder der anderen Weise wirksam sein müssen, eine absolute Gesetzmäßigkeit nicht aufkommen lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/193>, abgerufen am 16.06.2024.