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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ultimi ratio reZis

der Sieg? Was heißt siegen? Wie kann der Sieg über das feindliche Heer
beim feindlichen Volke realisiert werden? Weiter: Ist Krieg notwendig? Muß
der Krieg gerade mit Waffen, auf Leben und Tod geführt werden? Und endlich:
Wie ist es möglich, nachdem man sich gegenseitig Menschen getötet, Städte
zerstört, Felder verwüstet, Schiffe versenkt, Geld und Waren beschlagnahmt und
ein Volk das andere barbarisch, verräterisch, perfide genannt hat, wie ist es
möglich, eines Tages Frieden zu schließen? Was heißt Friede zwischen Staaten,
die sich so gehaßt haben?

Vielleicht ist mit Aufstellung dieser Fragen noch nicht deutlich gemacht, daß
es sich hier um Probleme handelt; vielleicht läßt die naive Selbstverständlichkeit,
mit der wir diese Begriffe anwenden und danach handeln, sich nicht ohne
weiteres überwinden. Soweit dies der Fall ist, muß die versuchte Antwort
zugleich die Bedeutung der Fragen erweisen.




Gehen wir von den Tatsachen aus, aber lieber nicht von den noch
unfertigen unserer Tage, sondern etwa von denen des Jahres 1870. Da war
also, um einen vom Zaune gebrochenen Anlaß, der Krieg erklärt worden, der
Aufmarsch vollzog sich auf beiden Seiten, die Schlachten und die deutschen Siege
folgten Schlag auf Schlag, die französischen Hauptarmeen wurden, samt ihrem
Kaiser, gefangen, Paris wurde belagert, eingenommen, und endlich Frieden
geschlossen. Deutschlands Gewinn. Frankreichs Verlust waren Elsaß-Lothringen
und fünf Milliarden Kriegsentschädigung. Das sind die Fakta.

Nehmen wir an, es habe zu jener Zeit irgendwo im Süden Frankreichs,
in Avignon oder Toulouse, ein friedlicher Pächter und Pfennigrentner gesessen,
der hier behaglich, nach Weise des französischen Mittelbürgers, die selbsterarbeitete
Muße seiner reifen Jahre genoß. Ihm hat der Krieg weder einen Sohn,
Bruder, Neffen noch einen Freund und guten Bekannten geraubt, sein Haus
und Garten sind von keiner Granate, von keinem Flintenschuß, von keiner
Requierierung und Einquartierung heimgesucht worden, er hat kaum einen Feld¬
soldaten und gar keinen prus8ieri zu Gesicht bekommen, er hat von dem ganzen
Krieg nur aus den Zeitungen erfahren. Dieser friedliche Mann und Patriot,
der zugleich ein Philosoph auf eigene Faust ist, leugnet ganz einfach die Gültig¬
keit des Krieges und Sieges; er erkennt die von den Waffen gefällte Entscheidung
nicht an; er erklärt die Affäre, die sich unter Blutvergießen und Grausamkeiten
jeder Art zwischen den beiden Heeren zugetragen hat, für eine Angelegenheit
der Kriegerkaste, die ein unwürdiger Rest urmenschlicher Barbarei sei und deren
Empfindungen er weder teile noch begreife; er behauptet, daß Wert und Be¬
deutung der Völker, ihre Macht und ihr Einfluß auf ganz anderen Dingen
beruhen, als Kanonen, Flinten und Bajonette es sind, und er bleibt trotzig
dabei, daß nicht das siegreiche Deutschland, sondern das besiegte Frankreich die
Vormacht europäischer Kultur darstelle.


Ultimi ratio reZis

der Sieg? Was heißt siegen? Wie kann der Sieg über das feindliche Heer
beim feindlichen Volke realisiert werden? Weiter: Ist Krieg notwendig? Muß
der Krieg gerade mit Waffen, auf Leben und Tod geführt werden? Und endlich:
Wie ist es möglich, nachdem man sich gegenseitig Menschen getötet, Städte
zerstört, Felder verwüstet, Schiffe versenkt, Geld und Waren beschlagnahmt und
ein Volk das andere barbarisch, verräterisch, perfide genannt hat, wie ist es
möglich, eines Tages Frieden zu schließen? Was heißt Friede zwischen Staaten,
die sich so gehaßt haben?

Vielleicht ist mit Aufstellung dieser Fragen noch nicht deutlich gemacht, daß
es sich hier um Probleme handelt; vielleicht läßt die naive Selbstverständlichkeit,
mit der wir diese Begriffe anwenden und danach handeln, sich nicht ohne
weiteres überwinden. Soweit dies der Fall ist, muß die versuchte Antwort
zugleich die Bedeutung der Fragen erweisen.




Gehen wir von den Tatsachen aus, aber lieber nicht von den noch
unfertigen unserer Tage, sondern etwa von denen des Jahres 1870. Da war
also, um einen vom Zaune gebrochenen Anlaß, der Krieg erklärt worden, der
Aufmarsch vollzog sich auf beiden Seiten, die Schlachten und die deutschen Siege
folgten Schlag auf Schlag, die französischen Hauptarmeen wurden, samt ihrem
Kaiser, gefangen, Paris wurde belagert, eingenommen, und endlich Frieden
geschlossen. Deutschlands Gewinn. Frankreichs Verlust waren Elsaß-Lothringen
und fünf Milliarden Kriegsentschädigung. Das sind die Fakta.

Nehmen wir an, es habe zu jener Zeit irgendwo im Süden Frankreichs,
in Avignon oder Toulouse, ein friedlicher Pächter und Pfennigrentner gesessen,
der hier behaglich, nach Weise des französischen Mittelbürgers, die selbsterarbeitete
Muße seiner reifen Jahre genoß. Ihm hat der Krieg weder einen Sohn,
Bruder, Neffen noch einen Freund und guten Bekannten geraubt, sein Haus
und Garten sind von keiner Granate, von keinem Flintenschuß, von keiner
Requierierung und Einquartierung heimgesucht worden, er hat kaum einen Feld¬
soldaten und gar keinen prus8ieri zu Gesicht bekommen, er hat von dem ganzen
Krieg nur aus den Zeitungen erfahren. Dieser friedliche Mann und Patriot,
der zugleich ein Philosoph auf eigene Faust ist, leugnet ganz einfach die Gültig¬
keit des Krieges und Sieges; er erkennt die von den Waffen gefällte Entscheidung
nicht an; er erklärt die Affäre, die sich unter Blutvergießen und Grausamkeiten
jeder Art zwischen den beiden Heeren zugetragen hat, für eine Angelegenheit
der Kriegerkaste, die ein unwürdiger Rest urmenschlicher Barbarei sei und deren
Empfindungen er weder teile noch begreife; er behauptet, daß Wert und Be¬
deutung der Völker, ihre Macht und ihr Einfluß auf ganz anderen Dingen
beruhen, als Kanonen, Flinten und Bajonette es sind, und er bleibt trotzig
dabei, daß nicht das siegreiche Deutschland, sondern das besiegte Frankreich die
Vormacht europäischer Kultur darstelle.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/148>, abgerufen am 16.05.2024.