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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der Feind im Böden

Gerechtigkeitsgefühl (das er vom Nechtsstnn unterscheidet) und die Macht des
persönlichen, des subjektiven Gewissens bezeichnet, so scheint er mir zu irren. Daß
die Russen keinerlei Organisation zustande bringen, ist nicht die Folge eines
übertriebenen Individualismus und Subjektivismus, sondern erklärt sich
ganz leicht aus ihrer Passivität, die, wie wohl niemand bestreiten wird,
ihre auffälligste Eigenschaft ist. Tolstoi hat diese Eigenschaft zur Religion
gestempelt. Der Russe ist groß im Dulden, aber die Organisations¬
kraft und der Antrieb zur Tätigkeit, zum Schaffen, zur Tat, die fehlen.
Es fehlt das moralische Rückgrat und darum das Pflicht- und Ehrgefühl. Auch
die Nächstenliebe des Russen ist mehr Schwäche als echte Liebe. Sie hält sich
an Pauli Spruch, daß wir allzumal Sünder seien, verachtet darum den Ver¬
brecher nicht, bemitleidet ihn nur, spricht ihn gern los, wenn er angeklagt ist,
und stellt sich ihm gleich, um die Anstrengung zu sparen, die dazu erforderlich
wäre, um sich über sein sittliches Niveau zu erheben. Freilich wird in
Rußland diese Schwäche noch durch die Gewissensverwirrung begünstigt, die
daraus entspringt, daß so viele Vertreter der Staatsgewalt ungestraft Ver¬
brechen begehen, und so oft edle Menschen als Verbrecher behandelt werden.
Die Neigung, sich zum Ärmsten, zum Schlechtesten herabzulassen, die Brüder-
küsse, die zwischen Fürst und Bauer gewechselt werden, geben dem Russentum
ein demokratisches Gepräge, aber, sagt Hugo Münsterberg, diese Gleichheit zieht
hinab, während in Amerika die Demokratie emportreibt, weil dort jeder nicht
bloß die Möglichkeit, sondern auch den Ehrgeiz hat, es den Höchsten gleich¬
zutun. Was die russische Intelligenz betrifft, so erfahren wir von Sir Donald
Mackenzie Wallace und anderen Kennern des russischen Volkes, daß die unver¬
daute westländische Wissenschaft und Philosophie die einen zu revolutionären
Schwärmern, die andern zu unpraktischen Theoretikern macht, und daß dieses,
zusammen mit der Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit der meisten Beamten, den
Erfolg gutgemeinter Reformen vereitelt. Wie Prohaska mit den Slawophilen
in dieser Volksart die Anlage zu einer neuen hohen, von der europäischen
grundverschiedenen Kultur sehen kann, begreife ich nicht. Der russische Bauer
ist ein gutmütiger Bär, den man lieben kann, wenn er sich gewaschen hat und
nicht betrunken ist (bei Turgenjew, der selbst ein veredeltes Exemplar dieser
Spezies war, lernt man ihn kennen), aber zu Kulturschöpfungen und Kultur-
tateu ist er nicht befähigt. Zu künstlerischer und literarischer Produktion aller¬
dings, denn intellektuell und ästhetisch ist der Russe gut begabt; doch gerade
die zerfahrenen, charakterschwachen Triebmenschen Tolstois, Dostojewskis. Gorkis
-- mit ihrem Kant Zone eine Delikatesse für übersättigte Ästheten -- zeigen
deutlich, daß von diesem Volke eine neue höhere Kultur nicht zu erwarten ist.
Etwas tüchtiges leisten wird es können, wenn es -- von Deutschen er¬
zogen wird.

Bis jetzt ist es nur georillt worden. Die seit Peter dem Dritten rein
deutsche Dynastie hat mit Hilfe ausländischen Kapitals, deutscher Intelligenz und


Der Feind im Böden

Gerechtigkeitsgefühl (das er vom Nechtsstnn unterscheidet) und die Macht des
persönlichen, des subjektiven Gewissens bezeichnet, so scheint er mir zu irren. Daß
die Russen keinerlei Organisation zustande bringen, ist nicht die Folge eines
übertriebenen Individualismus und Subjektivismus, sondern erklärt sich
ganz leicht aus ihrer Passivität, die, wie wohl niemand bestreiten wird,
ihre auffälligste Eigenschaft ist. Tolstoi hat diese Eigenschaft zur Religion
gestempelt. Der Russe ist groß im Dulden, aber die Organisations¬
kraft und der Antrieb zur Tätigkeit, zum Schaffen, zur Tat, die fehlen.
Es fehlt das moralische Rückgrat und darum das Pflicht- und Ehrgefühl. Auch
die Nächstenliebe des Russen ist mehr Schwäche als echte Liebe. Sie hält sich
an Pauli Spruch, daß wir allzumal Sünder seien, verachtet darum den Ver¬
brecher nicht, bemitleidet ihn nur, spricht ihn gern los, wenn er angeklagt ist,
und stellt sich ihm gleich, um die Anstrengung zu sparen, die dazu erforderlich
wäre, um sich über sein sittliches Niveau zu erheben. Freilich wird in
Rußland diese Schwäche noch durch die Gewissensverwirrung begünstigt, die
daraus entspringt, daß so viele Vertreter der Staatsgewalt ungestraft Ver¬
brechen begehen, und so oft edle Menschen als Verbrecher behandelt werden.
Die Neigung, sich zum Ärmsten, zum Schlechtesten herabzulassen, die Brüder-
küsse, die zwischen Fürst und Bauer gewechselt werden, geben dem Russentum
ein demokratisches Gepräge, aber, sagt Hugo Münsterberg, diese Gleichheit zieht
hinab, während in Amerika die Demokratie emportreibt, weil dort jeder nicht
bloß die Möglichkeit, sondern auch den Ehrgeiz hat, es den Höchsten gleich¬
zutun. Was die russische Intelligenz betrifft, so erfahren wir von Sir Donald
Mackenzie Wallace und anderen Kennern des russischen Volkes, daß die unver¬
daute westländische Wissenschaft und Philosophie die einen zu revolutionären
Schwärmern, die andern zu unpraktischen Theoretikern macht, und daß dieses,
zusammen mit der Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit der meisten Beamten, den
Erfolg gutgemeinter Reformen vereitelt. Wie Prohaska mit den Slawophilen
in dieser Volksart die Anlage zu einer neuen hohen, von der europäischen
grundverschiedenen Kultur sehen kann, begreife ich nicht. Der russische Bauer
ist ein gutmütiger Bär, den man lieben kann, wenn er sich gewaschen hat und
nicht betrunken ist (bei Turgenjew, der selbst ein veredeltes Exemplar dieser
Spezies war, lernt man ihn kennen), aber zu Kulturschöpfungen und Kultur-
tateu ist er nicht befähigt. Zu künstlerischer und literarischer Produktion aller¬
dings, denn intellektuell und ästhetisch ist der Russe gut begabt; doch gerade
die zerfahrenen, charakterschwachen Triebmenschen Tolstois, Dostojewskis. Gorkis
— mit ihrem Kant Zone eine Delikatesse für übersättigte Ästheten — zeigen
deutlich, daß von diesem Volke eine neue höhere Kultur nicht zu erwarten ist.
Etwas tüchtiges leisten wird es können, wenn es — von Deutschen er¬
zogen wird.

Bis jetzt ist es nur georillt worden. Die seit Peter dem Dritten rein
deutsche Dynastie hat mit Hilfe ausländischen Kapitals, deutscher Intelligenz und


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[0023] Der Feind im Böden Gerechtigkeitsgefühl (das er vom Nechtsstnn unterscheidet) und die Macht des persönlichen, des subjektiven Gewissens bezeichnet, so scheint er mir zu irren. Daß die Russen keinerlei Organisation zustande bringen, ist nicht die Folge eines übertriebenen Individualismus und Subjektivismus, sondern erklärt sich ganz leicht aus ihrer Passivität, die, wie wohl niemand bestreiten wird, ihre auffälligste Eigenschaft ist. Tolstoi hat diese Eigenschaft zur Religion gestempelt. Der Russe ist groß im Dulden, aber die Organisations¬ kraft und der Antrieb zur Tätigkeit, zum Schaffen, zur Tat, die fehlen. Es fehlt das moralische Rückgrat und darum das Pflicht- und Ehrgefühl. Auch die Nächstenliebe des Russen ist mehr Schwäche als echte Liebe. Sie hält sich an Pauli Spruch, daß wir allzumal Sünder seien, verachtet darum den Ver¬ brecher nicht, bemitleidet ihn nur, spricht ihn gern los, wenn er angeklagt ist, und stellt sich ihm gleich, um die Anstrengung zu sparen, die dazu erforderlich wäre, um sich über sein sittliches Niveau zu erheben. Freilich wird in Rußland diese Schwäche noch durch die Gewissensverwirrung begünstigt, die daraus entspringt, daß so viele Vertreter der Staatsgewalt ungestraft Ver¬ brechen begehen, und so oft edle Menschen als Verbrecher behandelt werden. Die Neigung, sich zum Ärmsten, zum Schlechtesten herabzulassen, die Brüder- küsse, die zwischen Fürst und Bauer gewechselt werden, geben dem Russentum ein demokratisches Gepräge, aber, sagt Hugo Münsterberg, diese Gleichheit zieht hinab, während in Amerika die Demokratie emportreibt, weil dort jeder nicht bloß die Möglichkeit, sondern auch den Ehrgeiz hat, es den Höchsten gleich¬ zutun. Was die russische Intelligenz betrifft, so erfahren wir von Sir Donald Mackenzie Wallace und anderen Kennern des russischen Volkes, daß die unver¬ daute westländische Wissenschaft und Philosophie die einen zu revolutionären Schwärmern, die andern zu unpraktischen Theoretikern macht, und daß dieses, zusammen mit der Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit der meisten Beamten, den Erfolg gutgemeinter Reformen vereitelt. Wie Prohaska mit den Slawophilen in dieser Volksart die Anlage zu einer neuen hohen, von der europäischen grundverschiedenen Kultur sehen kann, begreife ich nicht. Der russische Bauer ist ein gutmütiger Bär, den man lieben kann, wenn er sich gewaschen hat und nicht betrunken ist (bei Turgenjew, der selbst ein veredeltes Exemplar dieser Spezies war, lernt man ihn kennen), aber zu Kulturschöpfungen und Kultur- tateu ist er nicht befähigt. Zu künstlerischer und literarischer Produktion aller¬ dings, denn intellektuell und ästhetisch ist der Russe gut begabt; doch gerade die zerfahrenen, charakterschwachen Triebmenschen Tolstois, Dostojewskis. Gorkis — mit ihrem Kant Zone eine Delikatesse für übersättigte Ästheten — zeigen deutlich, daß von diesem Volke eine neue höhere Kultur nicht zu erwarten ist. Etwas tüchtiges leisten wird es können, wenn es — von Deutschen er¬ zogen wird. Bis jetzt ist es nur georillt worden. Die seit Peter dem Dritten rein deutsche Dynastie hat mit Hilfe ausländischen Kapitals, deutscher Intelligenz und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/23>, abgerufen am 15.05.2024.