Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Geschichtsxhilosophische Probleme

Rußland der instiktive Expansionstrieb des Panslaroisnms, was sie gegen uns
aufgepeitscht und losgelassen hat; und auf unserer Seite vollends ziehen die
jungen Regimenter in Hellem Idealismus dem Feinde entgegen. Deswegen ist
auch der Gegensatz von kultureller und politischer Geschichte stets nur ein
fließender, kein ausschließender: die Kunst Athens versteht man nur aus dessen
politischer Geschichte, und die Politik der italienischen Kondottiere nur aus der
von Haus aus ästhetischen und individualistischen Renaissancestimmung heraus.
Die Lehre von der überall vorhandenen Priorität des ökonomischen Faktors
vor dem ideellen ist dogmatisch, nicht wissenschaftlich, indem sie als Voraus-
setzung hinstellt und hinnimmt, was erst jedesmal besonderer Untersuchung
bedarf. Natürlich kann der Historiker vom Wirtschaftlichen,' er kann aber
ebensogut auch von der Religion oder den Sitten, von der Kunst oder der
Philosophie ausgehen; nur muß er sich dabei bewußt bleiben, daß jede dieser
Auffassungen eine einseitige und unvollständige ist, und muß daher immer auch
die anderen Faktoren gelten lassen und zu Hilfe rufen. Und da zeigen gerade
Zeiten, wie die unserige. daß der umfassendste Gesichtspunkt und der höchste
Standpunkt, von dem aus man Geschichte verstehen und Geschichte schreiben
kann, doch nur der politische, der staatliche ist, und daß von ihm aus am ehesten
noch das Ganze erfaßt und begriffen werden kann. Staatengeschichte ist eigentlich
das, was wir Geschichte nennen: das haben wir eine Zeitlang fast ver¬
gessen, wie wir es nicht mehr haben wollen gelten lassen, daß Kriege Knoten¬
punkte sind im Völkerleben, an denen die Völkerschicksale gewogen und von denen
sie auf Jahrzehnte hinaus auch wirtschaftlich und kulturell bestimmt werden.
Heute ist es uns allen klar: nicht der einzige, aber der große Gesichtspunkt,
unter den wir die geschichtlichen Erlebnisse zu stellen haben, ist der staatliche;
denn der Staat verloren, alles verloren.

Diesem Gedanken ist freilich die christliche Geschichtsphilosophie von Anfang
an mit widersprechenden Gefühlen gegenübergestanden. Römer 13 hat der
Apostel Paulus alle staatliche Obrigkeit und somit den Staat selbst als von
Gott verordnet erklärt, Apokalypse 13 aber hat deren Verfasser den Drachen,
das heißt den Teufel als den genannt, der dem großen Leviathan Staat seine
Kraft und große Macht gegeben habe; das ist der große Widerspruch im
Neuen Testament: denn beide Male ist von demselben, vom römischen Staat unter
Kaiser Nero die Rede. Die civitas terrena, der weltliche Staat schien dann
auch dem hierin der Apokalypse folgenden Augustin vom Bösen zu stammen:
indem er ihm die Kirche als Gottesstaat gegenüberstellt, bestimmt er die An-
schauung des Mittelalters. Die Entprofanisierung wie des Berufs überhaupt,
so auch der weltlichen Obrigkeit und des Staates vollzieht im Anschluß an
Paulus und teilweise nach dem Vorgang der nominalistischen Scholastik Luther
und öffnet damit der Neuzeit Tür und Tor. Und am Ende des achtzehnten
und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich derselbe Widerspruch
wieder, natürlich in ganz verdünnter und vergeistigter Form. W. von Humboldt


Geschichtsxhilosophische Probleme

Rußland der instiktive Expansionstrieb des Panslaroisnms, was sie gegen uns
aufgepeitscht und losgelassen hat; und auf unserer Seite vollends ziehen die
jungen Regimenter in Hellem Idealismus dem Feinde entgegen. Deswegen ist
auch der Gegensatz von kultureller und politischer Geschichte stets nur ein
fließender, kein ausschließender: die Kunst Athens versteht man nur aus dessen
politischer Geschichte, und die Politik der italienischen Kondottiere nur aus der
von Haus aus ästhetischen und individualistischen Renaissancestimmung heraus.
Die Lehre von der überall vorhandenen Priorität des ökonomischen Faktors
vor dem ideellen ist dogmatisch, nicht wissenschaftlich, indem sie als Voraus-
setzung hinstellt und hinnimmt, was erst jedesmal besonderer Untersuchung
bedarf. Natürlich kann der Historiker vom Wirtschaftlichen,' er kann aber
ebensogut auch von der Religion oder den Sitten, von der Kunst oder der
Philosophie ausgehen; nur muß er sich dabei bewußt bleiben, daß jede dieser
Auffassungen eine einseitige und unvollständige ist, und muß daher immer auch
die anderen Faktoren gelten lassen und zu Hilfe rufen. Und da zeigen gerade
Zeiten, wie die unserige. daß der umfassendste Gesichtspunkt und der höchste
Standpunkt, von dem aus man Geschichte verstehen und Geschichte schreiben
kann, doch nur der politische, der staatliche ist, und daß von ihm aus am ehesten
noch das Ganze erfaßt und begriffen werden kann. Staatengeschichte ist eigentlich
das, was wir Geschichte nennen: das haben wir eine Zeitlang fast ver¬
gessen, wie wir es nicht mehr haben wollen gelten lassen, daß Kriege Knoten¬
punkte sind im Völkerleben, an denen die Völkerschicksale gewogen und von denen
sie auf Jahrzehnte hinaus auch wirtschaftlich und kulturell bestimmt werden.
Heute ist es uns allen klar: nicht der einzige, aber der große Gesichtspunkt,
unter den wir die geschichtlichen Erlebnisse zu stellen haben, ist der staatliche;
denn der Staat verloren, alles verloren.

Diesem Gedanken ist freilich die christliche Geschichtsphilosophie von Anfang
an mit widersprechenden Gefühlen gegenübergestanden. Römer 13 hat der
Apostel Paulus alle staatliche Obrigkeit und somit den Staat selbst als von
Gott verordnet erklärt, Apokalypse 13 aber hat deren Verfasser den Drachen,
das heißt den Teufel als den genannt, der dem großen Leviathan Staat seine
Kraft und große Macht gegeben habe; das ist der große Widerspruch im
Neuen Testament: denn beide Male ist von demselben, vom römischen Staat unter
Kaiser Nero die Rede. Die civitas terrena, der weltliche Staat schien dann
auch dem hierin der Apokalypse folgenden Augustin vom Bösen zu stammen:
indem er ihm die Kirche als Gottesstaat gegenüberstellt, bestimmt er die An-
schauung des Mittelalters. Die Entprofanisierung wie des Berufs überhaupt,
so auch der weltlichen Obrigkeit und des Staates vollzieht im Anschluß an
Paulus und teilweise nach dem Vorgang der nominalistischen Scholastik Luther
und öffnet damit der Neuzeit Tür und Tor. Und am Ende des achtzehnten
und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich derselbe Widerspruch
wieder, natürlich in ganz verdünnter und vergeistigter Form. W. von Humboldt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323500"/>
          <fw type="header" place="top"> Geschichtsxhilosophische Probleme</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1394" prev="#ID_1393"> Rußland der instiktive Expansionstrieb des Panslaroisnms, was sie gegen uns<lb/>
aufgepeitscht und losgelassen hat; und auf unserer Seite vollends ziehen die<lb/>
jungen Regimenter in Hellem Idealismus dem Feinde entgegen. Deswegen ist<lb/>
auch der Gegensatz von kultureller und politischer Geschichte stets nur ein<lb/>
fließender, kein ausschließender: die Kunst Athens versteht man nur aus dessen<lb/>
politischer Geschichte, und die Politik der italienischen Kondottiere nur aus der<lb/>
von Haus aus ästhetischen und individualistischen Renaissancestimmung heraus.<lb/>
Die Lehre von der überall vorhandenen Priorität des ökonomischen Faktors<lb/>
vor dem ideellen ist dogmatisch, nicht wissenschaftlich, indem sie als Voraus-<lb/>
setzung hinstellt und hinnimmt, was erst jedesmal besonderer Untersuchung<lb/>
bedarf.  Natürlich kann der Historiker vom Wirtschaftlichen,' er kann aber<lb/>
ebensogut auch von der Religion oder den Sitten, von der Kunst oder der<lb/>
Philosophie ausgehen; nur muß er sich dabei bewußt bleiben, daß jede dieser<lb/>
Auffassungen eine einseitige und unvollständige ist, und muß daher immer auch<lb/>
die anderen Faktoren gelten lassen und zu Hilfe rufen.  Und da zeigen gerade<lb/>
Zeiten, wie die unserige. daß der umfassendste Gesichtspunkt und der höchste<lb/>
Standpunkt, von dem aus man Geschichte verstehen und Geschichte schreiben<lb/>
kann, doch nur der politische, der staatliche ist, und daß von ihm aus am ehesten<lb/>
noch das Ganze erfaßt und begriffen werden kann. Staatengeschichte ist eigentlich<lb/>
das, was wir Geschichte nennen: das haben wir eine Zeitlang fast ver¬<lb/>
gessen, wie wir es nicht mehr haben wollen gelten lassen, daß Kriege Knoten¬<lb/>
punkte sind im Völkerleben, an denen die Völkerschicksale gewogen und von denen<lb/>
sie auf Jahrzehnte hinaus auch wirtschaftlich und kulturell bestimmt werden.<lb/>
Heute ist es uns allen klar: nicht der einzige, aber der große Gesichtspunkt,<lb/>
unter den wir die geschichtlichen Erlebnisse zu stellen haben, ist der staatliche;<lb/>
denn der Staat verloren, alles verloren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1395" next="#ID_1396"> Diesem Gedanken ist freilich die christliche Geschichtsphilosophie von Anfang<lb/>
an mit widersprechenden Gefühlen gegenübergestanden. Römer 13 hat der<lb/>
Apostel Paulus alle staatliche Obrigkeit und somit den Staat selbst als von<lb/>
Gott verordnet erklärt, Apokalypse 13 aber hat deren Verfasser den Drachen,<lb/>
das heißt den Teufel als den genannt, der dem großen Leviathan Staat seine<lb/>
Kraft und große Macht gegeben habe; das ist der große Widerspruch im<lb/>
Neuen Testament: denn beide Male ist von demselben, vom römischen Staat unter<lb/>
Kaiser Nero die Rede. Die civitas terrena, der weltliche Staat schien dann<lb/>
auch dem hierin der Apokalypse folgenden Augustin vom Bösen zu stammen:<lb/>
indem er ihm die Kirche als Gottesstaat gegenüberstellt, bestimmt er die An-<lb/>
schauung des Mittelalters. Die Entprofanisierung wie des Berufs überhaupt,<lb/>
so auch der weltlichen Obrigkeit und des Staates vollzieht im Anschluß an<lb/>
Paulus und teilweise nach dem Vorgang der nominalistischen Scholastik Luther<lb/>
und öffnet damit der Neuzeit Tür und Tor. Und am Ende des achtzehnten<lb/>
und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich derselbe Widerspruch<lb/>
wieder, natürlich in ganz verdünnter und vergeistigter Form. W. von Humboldt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] Geschichtsxhilosophische Probleme Rußland der instiktive Expansionstrieb des Panslaroisnms, was sie gegen uns aufgepeitscht und losgelassen hat; und auf unserer Seite vollends ziehen die jungen Regimenter in Hellem Idealismus dem Feinde entgegen. Deswegen ist auch der Gegensatz von kultureller und politischer Geschichte stets nur ein fließender, kein ausschließender: die Kunst Athens versteht man nur aus dessen politischer Geschichte, und die Politik der italienischen Kondottiere nur aus der von Haus aus ästhetischen und individualistischen Renaissancestimmung heraus. Die Lehre von der überall vorhandenen Priorität des ökonomischen Faktors vor dem ideellen ist dogmatisch, nicht wissenschaftlich, indem sie als Voraus- setzung hinstellt und hinnimmt, was erst jedesmal besonderer Untersuchung bedarf. Natürlich kann der Historiker vom Wirtschaftlichen,' er kann aber ebensogut auch von der Religion oder den Sitten, von der Kunst oder der Philosophie ausgehen; nur muß er sich dabei bewußt bleiben, daß jede dieser Auffassungen eine einseitige und unvollständige ist, und muß daher immer auch die anderen Faktoren gelten lassen und zu Hilfe rufen. Und da zeigen gerade Zeiten, wie die unserige. daß der umfassendste Gesichtspunkt und der höchste Standpunkt, von dem aus man Geschichte verstehen und Geschichte schreiben kann, doch nur der politische, der staatliche ist, und daß von ihm aus am ehesten noch das Ganze erfaßt und begriffen werden kann. Staatengeschichte ist eigentlich das, was wir Geschichte nennen: das haben wir eine Zeitlang fast ver¬ gessen, wie wir es nicht mehr haben wollen gelten lassen, daß Kriege Knoten¬ punkte sind im Völkerleben, an denen die Völkerschicksale gewogen und von denen sie auf Jahrzehnte hinaus auch wirtschaftlich und kulturell bestimmt werden. Heute ist es uns allen klar: nicht der einzige, aber der große Gesichtspunkt, unter den wir die geschichtlichen Erlebnisse zu stellen haben, ist der staatliche; denn der Staat verloren, alles verloren. Diesem Gedanken ist freilich die christliche Geschichtsphilosophie von Anfang an mit widersprechenden Gefühlen gegenübergestanden. Römer 13 hat der Apostel Paulus alle staatliche Obrigkeit und somit den Staat selbst als von Gott verordnet erklärt, Apokalypse 13 aber hat deren Verfasser den Drachen, das heißt den Teufel als den genannt, der dem großen Leviathan Staat seine Kraft und große Macht gegeben habe; das ist der große Widerspruch im Neuen Testament: denn beide Male ist von demselben, vom römischen Staat unter Kaiser Nero die Rede. Die civitas terrena, der weltliche Staat schien dann auch dem hierin der Apokalypse folgenden Augustin vom Bösen zu stammen: indem er ihm die Kirche als Gottesstaat gegenüberstellt, bestimmt er die An- schauung des Mittelalters. Die Entprofanisierung wie des Berufs überhaupt, so auch der weltlichen Obrigkeit und des Staates vollzieht im Anschluß an Paulus und teilweise nach dem Vorgang der nominalistischen Scholastik Luther und öffnet damit der Neuzeit Tür und Tor. Und am Ende des achtzehnten und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigt sich derselbe Widerspruch wieder, natürlich in ganz verdünnter und vergeistigter Form. W. von Humboldt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/403>, abgerufen am 31.05.2024.