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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Standpunkte zu der Verletzung der nicht ratifizierten Londoner Deklaration
stellt. Ich möchte jedenfalls annehmen, daß bei der großen Unsicherheit der
Fragen des Seekriegsrechts die Anwendung voll Repressalien gegenüber ver¬
meintlichen Ungerechtigkeiten höchst beschränkt sein muß, will man nicht auf
einen Zustand völliger Anarchie hinsteuern. Aber von solchen Repressalien,
die ja von Fall zu Fall durchaus, ratsam sind, soll hier nicht die Rede sein.
Vielmehr meine ich, daß Deutschland berechtigt sein muß, die Schärfe des
englischen Vorgehens zum mindesten mit gleicher Schärfe zu beantworten.
Wenn sich England den unsicheren Zustand des Seekriegsrechts rücksichtslos zu
eigen macht, wenn es, ohne zu prüfen, was nun wirklich der fortgeschrittene
Geist unserer Zeit erfordert, das Konterbanderecht (das ja formell tatsächlich
noch nicht geregelt ist) in dem Geiste einer längst verschwundenen Zeit an¬
wendet, dann muß Deutschland berechtigt sein, ebenfalls die Zügel straff zu
ziehen und, wenn auch nicht zu den abgetanen Begriffen früherer Zeit zurück¬
zukehren, so doch sich die technischen Errungenschaften der neueren Zeit, ins¬
besondere die Unterseebote in einer Weise dienstbar zu machen, die zwar äußerst
hart ist, aber doch nicht ohne weiteres als völkerrechtswidrig bezeichnet werden
kann. Der Handelskrieg der Unterseebote, bei dem unter Umständen auch die
Besatzung der Handelsschiffe nicht geschont werden kann, muß die richtige
Antwort auf die Handhabung des englischen Konterbanderechts sein, und wenn
es den Neutralen nicht gelingt. England auf den Standpunkt der von Deutsch¬
land befolgten Londoner Deklaration zu bringen, dann können sie sich nicht
beschweren, wenn auch sie durch den Unterseebootkrieg hart betroffen werden.

Daher kann Deutschland dem Ergebnis der neutralen Proteste ruhig ent¬
gegensehen. Gibt England nach, d. h. stellt es sich fortan auf denselben Stand¬
punkt, den auch Deutschland gemäß den Bestimmungen der Londoner Deklaration
angenommen hat, so bedeutet daS für unsere ökonomische Situation während
des Krieges einen großen Vorteil. Erreichen die Neutralen aber ihren Zweck
nicht oder nur halb, so ergibt sich nunmehr für Deutschland die Berechtigung
zu Gegenmllßregeln. Die Behauptung Deutschlands, daß Englands Standpunkt
sich als ein Übergriff herausstellt und ein Nachgeben von Seiten dieses Landes
nicht zu erwarten steht, wäre als zutreffend erwiesen durch den Protest der Neu¬
tralen und seine Erfolglosigkeit. In jeder Beziehung ist daher das Vorgehen
der Neutralen für Deutschland äußerst wertvoll.

Zwei Tatsachen scheinen mir bei dem Vorgehen der Neutralen besonders
bemerkenswert. Einmal vermißt man die Gemeinschaftlichkeit des Protestes.
Die am meisten betroffenen Regierungen der Vereinigten Staaten, Hollands
und der skandinavischen Länder haben zwar zeitlich ziemlich gleichzeitig ihre
Wünsche dargebracht, aber sie haben ihre Forderungen doch nicht in die Form
eines Kollektivschrittes gekleidet und auch keine gemeinsamen Schritte angedroht.
Möglich, daß die Beschwerdepunkte der einzelnen Staaten in den Einzelheiten
allzusehr auseinandergingen. Wahrscheinlicher dürfte freilich sein, daß es der


Standpunkte zu der Verletzung der nicht ratifizierten Londoner Deklaration
stellt. Ich möchte jedenfalls annehmen, daß bei der großen Unsicherheit der
Fragen des Seekriegsrechts die Anwendung voll Repressalien gegenüber ver¬
meintlichen Ungerechtigkeiten höchst beschränkt sein muß, will man nicht auf
einen Zustand völliger Anarchie hinsteuern. Aber von solchen Repressalien,
die ja von Fall zu Fall durchaus, ratsam sind, soll hier nicht die Rede sein.
Vielmehr meine ich, daß Deutschland berechtigt sein muß, die Schärfe des
englischen Vorgehens zum mindesten mit gleicher Schärfe zu beantworten.
Wenn sich England den unsicheren Zustand des Seekriegsrechts rücksichtslos zu
eigen macht, wenn es, ohne zu prüfen, was nun wirklich der fortgeschrittene
Geist unserer Zeit erfordert, das Konterbanderecht (das ja formell tatsächlich
noch nicht geregelt ist) in dem Geiste einer längst verschwundenen Zeit an¬
wendet, dann muß Deutschland berechtigt sein, ebenfalls die Zügel straff zu
ziehen und, wenn auch nicht zu den abgetanen Begriffen früherer Zeit zurück¬
zukehren, so doch sich die technischen Errungenschaften der neueren Zeit, ins¬
besondere die Unterseebote in einer Weise dienstbar zu machen, die zwar äußerst
hart ist, aber doch nicht ohne weiteres als völkerrechtswidrig bezeichnet werden
kann. Der Handelskrieg der Unterseebote, bei dem unter Umständen auch die
Besatzung der Handelsschiffe nicht geschont werden kann, muß die richtige
Antwort auf die Handhabung des englischen Konterbanderechts sein, und wenn
es den Neutralen nicht gelingt. England auf den Standpunkt der von Deutsch¬
land befolgten Londoner Deklaration zu bringen, dann können sie sich nicht
beschweren, wenn auch sie durch den Unterseebootkrieg hart betroffen werden.

Daher kann Deutschland dem Ergebnis der neutralen Proteste ruhig ent¬
gegensehen. Gibt England nach, d. h. stellt es sich fortan auf denselben Stand¬
punkt, den auch Deutschland gemäß den Bestimmungen der Londoner Deklaration
angenommen hat, so bedeutet daS für unsere ökonomische Situation während
des Krieges einen großen Vorteil. Erreichen die Neutralen aber ihren Zweck
nicht oder nur halb, so ergibt sich nunmehr für Deutschland die Berechtigung
zu Gegenmllßregeln. Die Behauptung Deutschlands, daß Englands Standpunkt
sich als ein Übergriff herausstellt und ein Nachgeben von Seiten dieses Landes
nicht zu erwarten steht, wäre als zutreffend erwiesen durch den Protest der Neu¬
tralen und seine Erfolglosigkeit. In jeder Beziehung ist daher das Vorgehen
der Neutralen für Deutschland äußerst wertvoll.

Zwei Tatsachen scheinen mir bei dem Vorgehen der Neutralen besonders
bemerkenswert. Einmal vermißt man die Gemeinschaftlichkeit des Protestes.
Die am meisten betroffenen Regierungen der Vereinigten Staaten, Hollands
und der skandinavischen Länder haben zwar zeitlich ziemlich gleichzeitig ihre
Wünsche dargebracht, aber sie haben ihre Forderungen doch nicht in die Form
eines Kollektivschrittes gekleidet und auch keine gemeinsamen Schritte angedroht.
Möglich, daß die Beschwerdepunkte der einzelnen Staaten in den Einzelheiten
allzusehr auseinandergingen. Wahrscheinlicher dürfte freilich sein, daß es der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/56>, abgerufen am 28.05.2024.