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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Lodz

Das flutet unaufhörlich, eine förmlich ins Gigantische gesteigerte "Walpurgis¬
nacht", auf und nieder und quirlt brausend durcheinander wie von jäh auf¬
springenden: Wirbelsturm am Strandfelsen zerschellte Wogen. Man fühlt stark
heraus, daß diese ungeheure Flut sonst nicht an dieser Küste tobt, und in den
nächsten Seitenstraßen fließt denn auch das Leben in ruhigem Gleichmaß dahin.
Ob auch sonst so ruhig wie jetzt, erscheint nun freilich unwahrscheinlich, denn
was jetzt die seltsame, fremdartige Stille erzeugt, was jetzt den Mund des sonst
vielleicht laut auflachenden, kreischenden Tages mit fast unheimlicher Gewalt
verschließt, alle Farben löscht und alles Klirren der Stunden dämpft, das ist
das Schweigen der hochragenden Fabriken, das sind diese überall an den
Seitenstraßen sich aufrichtenden, weit ausgedehnten Riesenbauten, darinnen all
die gewaltigen Maschinen, diese Wunderwerke moderner Technik, einen tiefen
Schlaf schlafen, all die wuchtigen, riesigen Schwungräder und Turbinen erstarrt
stehen und keine Hand mehr sich regt. Verschlossen sind die hohen Eisentore,
verlassen und vereinsamt die weiten Höfe und in den öden Fensterhöhlen wohnt
das Grauen wie in erloschenen Augen.

Wahrlich, keine andere Stadt ist so unter den Eindruck ihrer Fabriken
gestellt wie Lodz. Welch eine Ausdehnung aber haben auch diese Unternehmungen
hier, die sast ausnahmslos deutscher Kaufmannsgeist geschaffen, deutsches Kapital
gespeist, deutscher Fleiß vergrößert. In ganze Stadtteile gliedern sie sich mit¬
unter. Da stehen Wohnbauten einer Fabrik in anmutiger Ordnung für ins¬
gesamt 7000 bis 8000 Familien! Unter allen ragt diejenige hervor, die ein
vormals unbekannter, nicht eben reich bemittelter deutscher Einwanderer, des
Namens Scheibler, vor just sechzig Jahren gegründet, und in unermüdlicher Aus¬
dauer binnen der verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit zu dem heutigen Riesen¬
unternehmen von Weltruf ausgestaltet hat. Da fehlen weder Schule noch
Krankenhaus, weder Parkanlagen noch Kaufhäuser und -- das ist vielleicht das
beste! -- da waltet Sauberkeit, soweit die immerhin üble Umgebung dergleichen
duldet. Denn das ist für das heutige Lodz charakteristisch, daß hart neben
dem blanken Herrenhaus die elende Hütte des Hörigen steht, dicht neben dem
Neuen das Alte und Uralte, neben dem Städtchen der Riesenfabrik der fast
weglose Pfuhl des wirr zusammengewürfelten Vagabunden- und Bettlerviertels.
Das macht das Stadtbild bunt und abwechslungsreich, aber nicht schön und
auch nicht eigentlich interessant, zumal die "reichen" Bauten, die da so unver¬
mittelt zwischen den schmucklosen Bübchen emporgeschossen sind, nicht selten durch
eine protzig überladene, geschmacklos garnierte Fassade entstellt werden. Hin¬
gegen gibt es unter den vor etwa hundert Jahren errichteten deutschen Ansiedler-
Häuschen, namentlich an der Piotrkowska, die wie aus der Kolonie Nowawes-
Potsdam herverpflanzt erscheinen, etliche wenige von ganz entzückender, köstlicher
Schlichtheit, und wenn sie auch in der Hauptsache fast nur aus Holz und
Dachpappe bestehen, so strahlen sie dennoch einen eigenen Liebreiz aus, der
noch erhöht wird durch die traulichen, kleinen Fensterchen, die oft ein wimmelndes


Lodz

Das flutet unaufhörlich, eine förmlich ins Gigantische gesteigerte „Walpurgis¬
nacht", auf und nieder und quirlt brausend durcheinander wie von jäh auf¬
springenden: Wirbelsturm am Strandfelsen zerschellte Wogen. Man fühlt stark
heraus, daß diese ungeheure Flut sonst nicht an dieser Küste tobt, und in den
nächsten Seitenstraßen fließt denn auch das Leben in ruhigem Gleichmaß dahin.
Ob auch sonst so ruhig wie jetzt, erscheint nun freilich unwahrscheinlich, denn
was jetzt die seltsame, fremdartige Stille erzeugt, was jetzt den Mund des sonst
vielleicht laut auflachenden, kreischenden Tages mit fast unheimlicher Gewalt
verschließt, alle Farben löscht und alles Klirren der Stunden dämpft, das ist
das Schweigen der hochragenden Fabriken, das sind diese überall an den
Seitenstraßen sich aufrichtenden, weit ausgedehnten Riesenbauten, darinnen all
die gewaltigen Maschinen, diese Wunderwerke moderner Technik, einen tiefen
Schlaf schlafen, all die wuchtigen, riesigen Schwungräder und Turbinen erstarrt
stehen und keine Hand mehr sich regt. Verschlossen sind die hohen Eisentore,
verlassen und vereinsamt die weiten Höfe und in den öden Fensterhöhlen wohnt
das Grauen wie in erloschenen Augen.

Wahrlich, keine andere Stadt ist so unter den Eindruck ihrer Fabriken
gestellt wie Lodz. Welch eine Ausdehnung aber haben auch diese Unternehmungen
hier, die sast ausnahmslos deutscher Kaufmannsgeist geschaffen, deutsches Kapital
gespeist, deutscher Fleiß vergrößert. In ganze Stadtteile gliedern sie sich mit¬
unter. Da stehen Wohnbauten einer Fabrik in anmutiger Ordnung für ins¬
gesamt 7000 bis 8000 Familien! Unter allen ragt diejenige hervor, die ein
vormals unbekannter, nicht eben reich bemittelter deutscher Einwanderer, des
Namens Scheibler, vor just sechzig Jahren gegründet, und in unermüdlicher Aus¬
dauer binnen der verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit zu dem heutigen Riesen¬
unternehmen von Weltruf ausgestaltet hat. Da fehlen weder Schule noch
Krankenhaus, weder Parkanlagen noch Kaufhäuser und — das ist vielleicht das
beste! — da waltet Sauberkeit, soweit die immerhin üble Umgebung dergleichen
duldet. Denn das ist für das heutige Lodz charakteristisch, daß hart neben
dem blanken Herrenhaus die elende Hütte des Hörigen steht, dicht neben dem
Neuen das Alte und Uralte, neben dem Städtchen der Riesenfabrik der fast
weglose Pfuhl des wirr zusammengewürfelten Vagabunden- und Bettlerviertels.
Das macht das Stadtbild bunt und abwechslungsreich, aber nicht schön und
auch nicht eigentlich interessant, zumal die „reichen" Bauten, die da so unver¬
mittelt zwischen den schmucklosen Bübchen emporgeschossen sind, nicht selten durch
eine protzig überladene, geschmacklos garnierte Fassade entstellt werden. Hin¬
gegen gibt es unter den vor etwa hundert Jahren errichteten deutschen Ansiedler-
Häuschen, namentlich an der Piotrkowska, die wie aus der Kolonie Nowawes-
Potsdam herverpflanzt erscheinen, etliche wenige von ganz entzückender, köstlicher
Schlichtheit, und wenn sie auch in der Hauptsache fast nur aus Holz und
Dachpappe bestehen, so strahlen sie dennoch einen eigenen Liebreiz aus, der
noch erhöht wird durch die traulichen, kleinen Fensterchen, die oft ein wimmelndes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/65>, abgerufen am 29.05.2024.