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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Lodz

und grausamer Vergeltung. Wie eine moralische Seuche hat dieser Wahnwitz
sast alle Gemüter ergriffen, wie fliegendes Feuer sengt jene törichte Furcht die
Gehirne aus. Die erste Folge ist, daß zahlreiche, sonst nicht übel beleumdete
und nicht unintelligente Leute vor den Deutschen in die weite Ferne fliehen
oder doch sich verkriechen, nur um die Truppen nicht etwa in Quartier nehmen
oder verpflegen und mit Kaufware bedienen zu müssen! Die leeren Quartiere
werden natürlich dennoch und nun erst recht bezogen und auch die etwaigen
Vorräte werden requiriert und verrechnet, -- aber man hat sich salviert! man
hat reine Händel unschuldige Hände! und ist also vor der Knute und dem
Henkerstrick der Kosaken und vor dem rächenden Zorn des großen Vater Zar
sicher.

O, Lodz weiß davon manches zu erzählen. Lustiges und zum Verzweifeln
und Aufschreien Schmerzliches, und die verlassenen Häuser und Wohnungen, die
verschlossenen Läden und Hotels künden laut von jener krankhaften, uns un¬
verständlichen Furcht vor Verrat an die russischen Spitzel oder die -- wie die
Narren meinen -- vielleicht doch wiederkehrende Zarenregierung.

Und wie in diesem wunderlichen, in vieler Beziehung so widerspruchs¬
vollen Lodz, ist es auch in seiner näheren Umgebung. Auch in den Dörfern
steht manches Haus leer und verödet; nur der Hund pflegt auf der Schwelle zu
liegen, treuer als sein Herr, und ein Säulein etwa treibt sich auch noch auf dem Hof
herum oder ein gackerndes Huhn; die menschlichen Bewohner hingegen sind auf und
davon. Das heißt die Deutschen, deren Zahl in Lodz auf rund 80000 angegeben
wird, und die seit mehr als hundert Jahren auch sonst zahlreich im Lande an¬
gesiedelt sind, sie haben zu allermeist ausgehalten. Und zwar -- wie wenigstens
die Dörfler anzugeben pflegen -- aus dem Grunde: verlassen nämlich die
"Wirte" ihren Hol, dann kommen die "Tauben", das heißt die polnischen
Schnappsäcke der Städte, und fallen in Haus und Scheuer ein wie die Hasel¬
nmuse und nehmen mit, was sie nur immer schleppen können, graben die Rüben
und Kartoffeln aus den Erdgruben, brechen die Gartenzäune und Schuppen¬
wände nieder, Winterholz zu sammeln, und lassen nichts zurück, was irgend
einen wenn auch noch so winzigen Wert besitzt. Sie erscheinen auch jetzt wieder
und wieder bei dem "Wirt", bettelnd oder auch dreist fordernd und schließlich
gar drohend, indem sie dem Hartnäckigen die Flucht anraten und ihn mit der
Verdächtigung zu schrecken suchen: er bleibe bei all der Kriegsgefahr am Ofen
sitzen, um die Deutschen zu empfangen und zu sättigen. "Aber" -- so heißt
dann die ewig gleiche Schlußkadenz -- "hüte dich. Wirt. Der Kosak sieht's,
und dann wehe. Väterchens Arm ist schwer und gerecht. Mach, daß du fort
kommst, sei klug!" Dessen ungeachtet hatten die "Wirte" jedoch aus, weil sie
dies Lied kennen und weil sie nur zu gut wissen, weshalb die Füchse es an¬
stimmen, die nur auf den Abzug warten, um in das Gehöft einzufallen. Etliche
Hofeigner sind freilich mehr in Lodz als daheim, namentlich solche, deren Kinder
und Enkel in der Stadt wohnen. Sie nun tauchen alle Morgen in den Straßen


Lodz

und grausamer Vergeltung. Wie eine moralische Seuche hat dieser Wahnwitz
sast alle Gemüter ergriffen, wie fliegendes Feuer sengt jene törichte Furcht die
Gehirne aus. Die erste Folge ist, daß zahlreiche, sonst nicht übel beleumdete
und nicht unintelligente Leute vor den Deutschen in die weite Ferne fliehen
oder doch sich verkriechen, nur um die Truppen nicht etwa in Quartier nehmen
oder verpflegen und mit Kaufware bedienen zu müssen! Die leeren Quartiere
werden natürlich dennoch und nun erst recht bezogen und auch die etwaigen
Vorräte werden requiriert und verrechnet, — aber man hat sich salviert! man
hat reine Händel unschuldige Hände! und ist also vor der Knute und dem
Henkerstrick der Kosaken und vor dem rächenden Zorn des großen Vater Zar
sicher.

O, Lodz weiß davon manches zu erzählen. Lustiges und zum Verzweifeln
und Aufschreien Schmerzliches, und die verlassenen Häuser und Wohnungen, die
verschlossenen Läden und Hotels künden laut von jener krankhaften, uns un¬
verständlichen Furcht vor Verrat an die russischen Spitzel oder die — wie die
Narren meinen — vielleicht doch wiederkehrende Zarenregierung.

Und wie in diesem wunderlichen, in vieler Beziehung so widerspruchs¬
vollen Lodz, ist es auch in seiner näheren Umgebung. Auch in den Dörfern
steht manches Haus leer und verödet; nur der Hund pflegt auf der Schwelle zu
liegen, treuer als sein Herr, und ein Säulein etwa treibt sich auch noch auf dem Hof
herum oder ein gackerndes Huhn; die menschlichen Bewohner hingegen sind auf und
davon. Das heißt die Deutschen, deren Zahl in Lodz auf rund 80000 angegeben
wird, und die seit mehr als hundert Jahren auch sonst zahlreich im Lande an¬
gesiedelt sind, sie haben zu allermeist ausgehalten. Und zwar — wie wenigstens
die Dörfler anzugeben pflegen — aus dem Grunde: verlassen nämlich die
„Wirte" ihren Hol, dann kommen die „Tauben", das heißt die polnischen
Schnappsäcke der Städte, und fallen in Haus und Scheuer ein wie die Hasel¬
nmuse und nehmen mit, was sie nur immer schleppen können, graben die Rüben
und Kartoffeln aus den Erdgruben, brechen die Gartenzäune und Schuppen¬
wände nieder, Winterholz zu sammeln, und lassen nichts zurück, was irgend
einen wenn auch noch so winzigen Wert besitzt. Sie erscheinen auch jetzt wieder
und wieder bei dem „Wirt", bettelnd oder auch dreist fordernd und schließlich
gar drohend, indem sie dem Hartnäckigen die Flucht anraten und ihn mit der
Verdächtigung zu schrecken suchen: er bleibe bei all der Kriegsgefahr am Ofen
sitzen, um die Deutschen zu empfangen und zu sättigen. „Aber" — so heißt
dann die ewig gleiche Schlußkadenz — „hüte dich. Wirt. Der Kosak sieht's,
und dann wehe. Väterchens Arm ist schwer und gerecht. Mach, daß du fort
kommst, sei klug!" Dessen ungeachtet hatten die „Wirte" jedoch aus, weil sie
dies Lied kennen und weil sie nur zu gut wissen, weshalb die Füchse es an¬
stimmen, die nur auf den Abzug warten, um in das Gehöft einzufallen. Etliche
Hofeigner sind freilich mehr in Lodz als daheim, namentlich solche, deren Kinder
und Enkel in der Stadt wohnen. Sie nun tauchen alle Morgen in den Straßen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/67>, abgerufen am 29.05.2024.