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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Genesis des Weltkrieges

behelligen vermöchte. Dennoch bedachte uns das britische Inselreich seit mehr
als einem Jahrzehnt mit einer Gegnerschaft, die Jahr für Jahr an Breite und
Tiefe zunahm. Das Verständnis hierfür gibt nicht einseitig das Studium der
Ein- und Ausfuhrziffern. Es schlicht sich indessen auf, sobald wir die welt¬
wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Macht untersuchen. Seit Jahrzehnten
ist die engliche Handelsbilanz passiv. Die Ursache liegt in der Preisgabe der
englischen Landwirtschaft, die in der Abfolge der Jahrzehnte dazu führte, daß
Großbritannien feinen Bedarf an Nahrungsmitteln bis auf einen geringen Rest
einführen muß. Rund sechs Milliarden Mark wendet England jährlich dafür
auf, um seine Bevölkerung ernähren zu können. Dieser Posten allein macht
die Handelsbilanz andauernd passiv. Nun reicht indessen die industrielle
Erzeugung schon seit Jahrzehnten nicht mehr hin. die notwendigen und unent¬
behrlichen Nahrungsmittel zu bezahlen. Wäre England nur Industriestaat, so
hätte es staatswirtschaftlich längst die Waffen strecken müssen. Den Zuschuß,
den die Nahrungsmitteleinfuhr verlangt, muß die sogenannte Forderungsbilanz
leisten. Unter Forderungsbilanz versteht man volkswirtschaftlich, im Unterschied
von der Handelsbilanz, jenen Teil des Zahlungsausgleichs im internationalen
Wirtschaftsverkehr, der nicht aus Waren, sondern aus Forderungen des einen
Staates an den anderen besteht. Er setzt sich zusammen aus Schiffahrtsspesen,
aus Renten im Auslande angelegter Kapitalien usw. Aus ihnen zieht England
jährlich einen Überschuß, der die passive Bilanz des SpezialHandels völlig deckt,
darüber hinaus aber steigende Kapitalanlagen im Auslande ermöglicht. Nun
ist gerade dies System der Schulter- und Tragpunkt der britischen Volkswirt¬
schaft geworden. Es ist empfindlicher und künstlicher, als die organisch gesunde
industrielle Struktur Deutschlands. Um so künstlicher, als die eigen wirtschaftliche
Basis, auf der das System ruht, verhältnismäßig schmal ist. So ist London
der Hauptmetallmarkt, zieht daraus beträchtliche Vorteile finanzwirtschaftlicher
und industriepolitischer Natur, nicht zum wenigsten auf Kosten Deutschlands.
Denn die Eisen- und Stahlerzeugung Deutschlands erreicht beinahe 70 Millionen
Tonnen, während die des Umrsä loin^aom nicht über 30 Millionen hinaus"
kommt. Weiter: der Eisen- und Stahlverbrauch Deutschlands ist relativ und absolut
größer als der Englands. Die Marktverhältnisse und der industrielle Knochen¬
bau der Industriestaaten rechtfertigen also in keiner Weise, daß London weiter
der Weltmetallmarkt bleibt. Daraus ergeben sich so unnatürliche Verhält¬
nisse, wie zum Beispiel, daß der Merton-Konzern, die größte Metallgesellschaft
der Welt, ihren Kopf- und ihren Hauptsitz in London hat. während sie ihre
bedeutendsten Geschäfte in Deutschland und in den Vereinigten Staaten macht.
Hier war ein Wechsel unvermeidlich, ohne Rücksicht darauf, daß er die weltwirt¬
schaftliche Ausnahmestellung Großbritanniens schädigte. Und die Sorge vor
diesem Wechsel, ist eine der stärksten Triebkräfte des britischen Kriegzornes. In
diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß uns englische Zeitungen ein
Strafgericht ankündigten, das die Vergeltung für die "Verwüstung" Belgiens


Zur Genesis des Weltkrieges

behelligen vermöchte. Dennoch bedachte uns das britische Inselreich seit mehr
als einem Jahrzehnt mit einer Gegnerschaft, die Jahr für Jahr an Breite und
Tiefe zunahm. Das Verständnis hierfür gibt nicht einseitig das Studium der
Ein- und Ausfuhrziffern. Es schlicht sich indessen auf, sobald wir die welt¬
wirtschaftlichen Grundlagen der britischen Macht untersuchen. Seit Jahrzehnten
ist die engliche Handelsbilanz passiv. Die Ursache liegt in der Preisgabe der
englischen Landwirtschaft, die in der Abfolge der Jahrzehnte dazu führte, daß
Großbritannien feinen Bedarf an Nahrungsmitteln bis auf einen geringen Rest
einführen muß. Rund sechs Milliarden Mark wendet England jährlich dafür
auf, um seine Bevölkerung ernähren zu können. Dieser Posten allein macht
die Handelsbilanz andauernd passiv. Nun reicht indessen die industrielle
Erzeugung schon seit Jahrzehnten nicht mehr hin. die notwendigen und unent¬
behrlichen Nahrungsmittel zu bezahlen. Wäre England nur Industriestaat, so
hätte es staatswirtschaftlich längst die Waffen strecken müssen. Den Zuschuß,
den die Nahrungsmitteleinfuhr verlangt, muß die sogenannte Forderungsbilanz
leisten. Unter Forderungsbilanz versteht man volkswirtschaftlich, im Unterschied
von der Handelsbilanz, jenen Teil des Zahlungsausgleichs im internationalen
Wirtschaftsverkehr, der nicht aus Waren, sondern aus Forderungen des einen
Staates an den anderen besteht. Er setzt sich zusammen aus Schiffahrtsspesen,
aus Renten im Auslande angelegter Kapitalien usw. Aus ihnen zieht England
jährlich einen Überschuß, der die passive Bilanz des SpezialHandels völlig deckt,
darüber hinaus aber steigende Kapitalanlagen im Auslande ermöglicht. Nun
ist gerade dies System der Schulter- und Tragpunkt der britischen Volkswirt¬
schaft geworden. Es ist empfindlicher und künstlicher, als die organisch gesunde
industrielle Struktur Deutschlands. Um so künstlicher, als die eigen wirtschaftliche
Basis, auf der das System ruht, verhältnismäßig schmal ist. So ist London
der Hauptmetallmarkt, zieht daraus beträchtliche Vorteile finanzwirtschaftlicher
und industriepolitischer Natur, nicht zum wenigsten auf Kosten Deutschlands.
Denn die Eisen- und Stahlerzeugung Deutschlands erreicht beinahe 70 Millionen
Tonnen, während die des Umrsä loin^aom nicht über 30 Millionen hinaus«
kommt. Weiter: der Eisen- und Stahlverbrauch Deutschlands ist relativ und absolut
größer als der Englands. Die Marktverhältnisse und der industrielle Knochen¬
bau der Industriestaaten rechtfertigen also in keiner Weise, daß London weiter
der Weltmetallmarkt bleibt. Daraus ergeben sich so unnatürliche Verhält¬
nisse, wie zum Beispiel, daß der Merton-Konzern, die größte Metallgesellschaft
der Welt, ihren Kopf- und ihren Hauptsitz in London hat. während sie ihre
bedeutendsten Geschäfte in Deutschland und in den Vereinigten Staaten macht.
Hier war ein Wechsel unvermeidlich, ohne Rücksicht darauf, daß er die weltwirt¬
schaftliche Ausnahmestellung Großbritanniens schädigte. Und die Sorge vor
diesem Wechsel, ist eine der stärksten Triebkräfte des britischen Kriegzornes. In
diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß uns englische Zeitungen ein
Strafgericht ankündigten, das die Vergeltung für die „Verwüstung" Belgiens


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/80>, abgerufen am 04.06.2024.