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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Industrie im Ariege

einen Besuch ab, und vor wenigen Wochen lasen wir im Reichsarbeits-
blatt:

"Die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate haben gezeigt, daß die Arbeit¬
nehmerverbände den ganz außerordentlichen Anforderungen, die durch den
Krieg namentlich an ihre materielle Leistungsfähigkeit gestellt werden, im
wesentlichen vollauf gewachsen sind, und daß ihr Bestand über die Kriegsdauer
hinaus im ganzen als gesichert angesehen werden kann"*).

Fürwahr, es ist ein verführerisches, erhebendes Bild, diese beiden großen,
bislang feindlichen Organisationsgruppen bei gemeinsamer Arbeit zu sehen, denn
es läßt den Segen ahnen, der durch ihre dauernde Zusammenarbeit der Nation
zufließen würde. Die Beendigung des Krieges wird voraussichtlich die früheren
Verhältnisse wiederbringen. Wenn aber die jetzige, schwere Zeit in beiden Lagern
wenigstens den Wunsch nach Verständigung und Zusammenarbeit wecken und
stärken würde, so wäre dies schon als Gewinn zu preisen.

Der Kriegsbeginn traf die deutsche Industrie um so heftiger und uner¬
warteter, als sie in erheblichem Umfang mit der außerdeutschen Kundschaft
beschäftigt war, und der wirtschaftliche Verkehr mit jenen Staaten, die mit uns
Krieg führen, trotz der politischen Spannung bis zuletzt sehr lebhaft war. Der
Ausbruch des Krieges zerschnitt diese Beziehungen und unterband nahezu
jeglichen Außenhandel. 20 bis 25 Prozent der deutschen Warenerzeugung
fallen auf das Ausland, und ungefähr ein Sechstel bis ein fünftel der deutschen
Arbeiterschaft waren für den nunmehr stillgelegten Außenhandel, der im Vorjahr
20 Milliarden betrug, tätig. Für die hierdurch betroffene Industrie galt es,
das. was ihnen am Außenhandel verloren gegangen war, auf dem Jnlands-
markt zu erobern. Glaubte England die Zeit gekommen, um unseren Außen¬
handel mühelos an sich reißen zu können, so war für uns der Augenblick
günstig, den Jnlandsmarkt von ausländischen Erzeugnissen zu säubern. Die
deutsche Kohlenindustrie zum Beispiel tritt erfolgreich in die Lücke, die durch
die nunmehr fehlende englische Kohleneinfuhr entstanden ist. Die ununterbrochene
Förderung von Steinkohlen aber ist in der gegenwärtigen Zeit von um so
größerer Wichtigkeit, als dadurch die ausreichende Erzeugung pharmazeutischer
und chemischer Artikel, die Versorgung mit Leuchtgas mit dem für die Land¬
wirtschaft wichtigen schwefelsauren Ammoniak und endlich die Herstellung der
Farbstoffe gesichert wird. England, das lediglich auf den Bezug deutscher
Farbstoffe angewiesen ist, sah sich zur Stillegung eines großen Teiles seiner
textilindustriellen Betriebe veranlaßt. Auch die Vereinigten Staaten, die um
die Jahreswende zwei Schiffe mit deutschen chemischen Erzeugnissen befrachteten
und mit Englands Genehmigung unter amerikanischer Flagge nach Amerika
führten, konnten Betriebseinstellungen infolge Farbstoffmangels nicht verhindern.



*) Vgl. den Aufsatz "Die deutschen Gewerkschaftschastsorganisationen und der Krieg"
von Heinrich Göhring in Heft 61, 1914.
Die deutsche Industrie im Ariege

einen Besuch ab, und vor wenigen Wochen lasen wir im Reichsarbeits-
blatt:

„Die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate haben gezeigt, daß die Arbeit¬
nehmerverbände den ganz außerordentlichen Anforderungen, die durch den
Krieg namentlich an ihre materielle Leistungsfähigkeit gestellt werden, im
wesentlichen vollauf gewachsen sind, und daß ihr Bestand über die Kriegsdauer
hinaus im ganzen als gesichert angesehen werden kann"*).

Fürwahr, es ist ein verführerisches, erhebendes Bild, diese beiden großen,
bislang feindlichen Organisationsgruppen bei gemeinsamer Arbeit zu sehen, denn
es läßt den Segen ahnen, der durch ihre dauernde Zusammenarbeit der Nation
zufließen würde. Die Beendigung des Krieges wird voraussichtlich die früheren
Verhältnisse wiederbringen. Wenn aber die jetzige, schwere Zeit in beiden Lagern
wenigstens den Wunsch nach Verständigung und Zusammenarbeit wecken und
stärken würde, so wäre dies schon als Gewinn zu preisen.

Der Kriegsbeginn traf die deutsche Industrie um so heftiger und uner¬
warteter, als sie in erheblichem Umfang mit der außerdeutschen Kundschaft
beschäftigt war, und der wirtschaftliche Verkehr mit jenen Staaten, die mit uns
Krieg führen, trotz der politischen Spannung bis zuletzt sehr lebhaft war. Der
Ausbruch des Krieges zerschnitt diese Beziehungen und unterband nahezu
jeglichen Außenhandel. 20 bis 25 Prozent der deutschen Warenerzeugung
fallen auf das Ausland, und ungefähr ein Sechstel bis ein fünftel der deutschen
Arbeiterschaft waren für den nunmehr stillgelegten Außenhandel, der im Vorjahr
20 Milliarden betrug, tätig. Für die hierdurch betroffene Industrie galt es,
das. was ihnen am Außenhandel verloren gegangen war, auf dem Jnlands-
markt zu erobern. Glaubte England die Zeit gekommen, um unseren Außen¬
handel mühelos an sich reißen zu können, so war für uns der Augenblick
günstig, den Jnlandsmarkt von ausländischen Erzeugnissen zu säubern. Die
deutsche Kohlenindustrie zum Beispiel tritt erfolgreich in die Lücke, die durch
die nunmehr fehlende englische Kohleneinfuhr entstanden ist. Die ununterbrochene
Förderung von Steinkohlen aber ist in der gegenwärtigen Zeit von um so
größerer Wichtigkeit, als dadurch die ausreichende Erzeugung pharmazeutischer
und chemischer Artikel, die Versorgung mit Leuchtgas mit dem für die Land¬
wirtschaft wichtigen schwefelsauren Ammoniak und endlich die Herstellung der
Farbstoffe gesichert wird. England, das lediglich auf den Bezug deutscher
Farbstoffe angewiesen ist, sah sich zur Stillegung eines großen Teiles seiner
textilindustriellen Betriebe veranlaßt. Auch die Vereinigten Staaten, die um
die Jahreswende zwei Schiffe mit deutschen chemischen Erzeugnissen befrachteten
und mit Englands Genehmigung unter amerikanischer Flagge nach Amerika
führten, konnten Betriebseinstellungen infolge Farbstoffmangels nicht verhindern.



*) Vgl. den Aufsatz „Die deutschen Gewerkschaftschastsorganisationen und der Krieg"
von Heinrich Göhring in Heft 61, 1914.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/18>, abgerufen am 07.05.2024.