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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropäische Aulturgedcmken

Seitdem nun noch der Gedanke "Mitteleuropa" in die Mitte unseres
Denkens gerückt ist, haben sich neue Probleme in Fülle erhoben. Unser Volk,
das sich selbst noch so problematisch ist, findet die Aufgabe vor, politischer und
wirtschaftlicher, aber auch geistiger und kultureller Mittelpunkt einer größeren
Völkereinheit zu werden, eine Aufgabe, deren Lösung, wie sie gewaltig das Welt¬
geschehen der Zukunft bestimmen muß, so auch zurückwirken wird auf unser Volk
und alle seine Glieder. Ist es da ein Wunder, wenn alle unsere stärksten und
tiefsten Kräfte sich aufgerufen fühlen, das Formlose gestalten zu helfen?

Es wird einem späteren Betrachter der Geistesgeschichte unserer Tage eine
reizvolle Aufgabe sein, das reiche Farbenspiel der Geisteskräfte unseres Volkes
zu beobachten, wie es sich an den neuen Fragen versucht, wie je nach Anlagen,
Neigungen, Temperament der einzelne nach dieser und jener Seite mit An¬
regung, Vorschlag, Programm Wege zeigen möchte in die verschlossene Zukunft.
Denn verhüllt ist sie uns und um so dichter verhüllt, je feiner die Werte sind,
um die es sich handelt. Während in der Richtung auf wirtschaftliche, soziale,
staatspolitische Zukunftsziele unsere Wege bereits hindurchzuschimmern beginnen,
erscheint das Zukunftsreich des Geistes, der Religion, der Kultur noch dunkel.
Und doch ahnen wir, daß eine Wende sich auch dort vollzieht.

Weil wir das ahnen, so suchen die, denen das Geistige am Herzen liegt,
den Schleier zu durchdringen, der diese Zukunft abschließt. Und wer möchte es
verwunderlich finden, wenn aus ihren Reihen manche in sich den Beruf er¬
kennen, Führer in jenes unbekannte Land zu werden. Aber hier liegt eine
Gefahr. Denn es handelt sich, wenn irgendwo, gewiß hier um Dinge, deren
Verlauf und deren Ziele sich nicht berechnen und nicht spekulativ erfassen lassen,
weil ihr Verlauf immanenten Gesetzen unterliegt, die für unsere Endlichkeit
unerforschlich sind, jenen Gesetzen, die dem Menschengeschick in der Geschichte
seine Richtung geben. Wer hier maßgebliche Worte zu reden sich unterfängt,
zieht sich den Vorwurf zu, daß ihm die Ehrfurcht vor dem geheimnisvoll-gött¬
lichen Werden der Kulturwerke nicht innewohnt.

Über den Begriff der Kultur und ihren Unterschied gegenüber der Zivilisation
hat uns ja dieser Krieg auch wieder nachdenken gelehrt. Daß wir die scharfe
Zuspitzung der Antithese im ersten Teil von Thomas Manns kleinem Buch über
Friedrich und die große Koalition als eine Überhöhung des Gegensätzlichen
empfinden, mindert (wie bei Sombarts Buch über Händler und Helden) nicht
deren erkenntnisfördernden Wert. Jedenfalls verstehen wir, daß Kultur eigenen
Gesetzen folgt, sich nicht rationell züchten läßt, sondern naturgewachsen im
einzelnen und im Volke aufblühe.

Ich sehe den Ursprung der Kultur in der Entfaltung irrationaler Seelen-
räfte des Einzelmenschen, deren Wurzeln im Unbewußten liegen. Es sind
durchaus dunkle, unerforschliche Ereignisse, die sich hier darbieten. Ihr Hervor¬
treten hängt nur insoweit von äußeren Bedingungen ab, als dem Menschen
erstens die seelische Verfassung gegeben sein muß, das Neue, das da wachsen


Mitteleuropäische Aulturgedcmken

Seitdem nun noch der Gedanke „Mitteleuropa" in die Mitte unseres
Denkens gerückt ist, haben sich neue Probleme in Fülle erhoben. Unser Volk,
das sich selbst noch so problematisch ist, findet die Aufgabe vor, politischer und
wirtschaftlicher, aber auch geistiger und kultureller Mittelpunkt einer größeren
Völkereinheit zu werden, eine Aufgabe, deren Lösung, wie sie gewaltig das Welt¬
geschehen der Zukunft bestimmen muß, so auch zurückwirken wird auf unser Volk
und alle seine Glieder. Ist es da ein Wunder, wenn alle unsere stärksten und
tiefsten Kräfte sich aufgerufen fühlen, das Formlose gestalten zu helfen?

Es wird einem späteren Betrachter der Geistesgeschichte unserer Tage eine
reizvolle Aufgabe sein, das reiche Farbenspiel der Geisteskräfte unseres Volkes
zu beobachten, wie es sich an den neuen Fragen versucht, wie je nach Anlagen,
Neigungen, Temperament der einzelne nach dieser und jener Seite mit An¬
regung, Vorschlag, Programm Wege zeigen möchte in die verschlossene Zukunft.
Denn verhüllt ist sie uns und um so dichter verhüllt, je feiner die Werte sind,
um die es sich handelt. Während in der Richtung auf wirtschaftliche, soziale,
staatspolitische Zukunftsziele unsere Wege bereits hindurchzuschimmern beginnen,
erscheint das Zukunftsreich des Geistes, der Religion, der Kultur noch dunkel.
Und doch ahnen wir, daß eine Wende sich auch dort vollzieht.

Weil wir das ahnen, so suchen die, denen das Geistige am Herzen liegt,
den Schleier zu durchdringen, der diese Zukunft abschließt. Und wer möchte es
verwunderlich finden, wenn aus ihren Reihen manche in sich den Beruf er¬
kennen, Führer in jenes unbekannte Land zu werden. Aber hier liegt eine
Gefahr. Denn es handelt sich, wenn irgendwo, gewiß hier um Dinge, deren
Verlauf und deren Ziele sich nicht berechnen und nicht spekulativ erfassen lassen,
weil ihr Verlauf immanenten Gesetzen unterliegt, die für unsere Endlichkeit
unerforschlich sind, jenen Gesetzen, die dem Menschengeschick in der Geschichte
seine Richtung geben. Wer hier maßgebliche Worte zu reden sich unterfängt,
zieht sich den Vorwurf zu, daß ihm die Ehrfurcht vor dem geheimnisvoll-gött¬
lichen Werden der Kulturwerke nicht innewohnt.

Über den Begriff der Kultur und ihren Unterschied gegenüber der Zivilisation
hat uns ja dieser Krieg auch wieder nachdenken gelehrt. Daß wir die scharfe
Zuspitzung der Antithese im ersten Teil von Thomas Manns kleinem Buch über
Friedrich und die große Koalition als eine Überhöhung des Gegensätzlichen
empfinden, mindert (wie bei Sombarts Buch über Händler und Helden) nicht
deren erkenntnisfördernden Wert. Jedenfalls verstehen wir, daß Kultur eigenen
Gesetzen folgt, sich nicht rationell züchten läßt, sondern naturgewachsen im
einzelnen und im Volke aufblühe.

Ich sehe den Ursprung der Kultur in der Entfaltung irrationaler Seelen-
räfte des Einzelmenschen, deren Wurzeln im Unbewußten liegen. Es sind
durchaus dunkle, unerforschliche Ereignisse, die sich hier darbieten. Ihr Hervor¬
treten hängt nur insoweit von äußeren Bedingungen ab, als dem Menschen
erstens die seelische Verfassung gegeben sein muß, das Neue, das da wachsen


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[0110] Mitteleuropäische Aulturgedcmken Seitdem nun noch der Gedanke „Mitteleuropa" in die Mitte unseres Denkens gerückt ist, haben sich neue Probleme in Fülle erhoben. Unser Volk, das sich selbst noch so problematisch ist, findet die Aufgabe vor, politischer und wirtschaftlicher, aber auch geistiger und kultureller Mittelpunkt einer größeren Völkereinheit zu werden, eine Aufgabe, deren Lösung, wie sie gewaltig das Welt¬ geschehen der Zukunft bestimmen muß, so auch zurückwirken wird auf unser Volk und alle seine Glieder. Ist es da ein Wunder, wenn alle unsere stärksten und tiefsten Kräfte sich aufgerufen fühlen, das Formlose gestalten zu helfen? Es wird einem späteren Betrachter der Geistesgeschichte unserer Tage eine reizvolle Aufgabe sein, das reiche Farbenspiel der Geisteskräfte unseres Volkes zu beobachten, wie es sich an den neuen Fragen versucht, wie je nach Anlagen, Neigungen, Temperament der einzelne nach dieser und jener Seite mit An¬ regung, Vorschlag, Programm Wege zeigen möchte in die verschlossene Zukunft. Denn verhüllt ist sie uns und um so dichter verhüllt, je feiner die Werte sind, um die es sich handelt. Während in der Richtung auf wirtschaftliche, soziale, staatspolitische Zukunftsziele unsere Wege bereits hindurchzuschimmern beginnen, erscheint das Zukunftsreich des Geistes, der Religion, der Kultur noch dunkel. Und doch ahnen wir, daß eine Wende sich auch dort vollzieht. Weil wir das ahnen, so suchen die, denen das Geistige am Herzen liegt, den Schleier zu durchdringen, der diese Zukunft abschließt. Und wer möchte es verwunderlich finden, wenn aus ihren Reihen manche in sich den Beruf er¬ kennen, Führer in jenes unbekannte Land zu werden. Aber hier liegt eine Gefahr. Denn es handelt sich, wenn irgendwo, gewiß hier um Dinge, deren Verlauf und deren Ziele sich nicht berechnen und nicht spekulativ erfassen lassen, weil ihr Verlauf immanenten Gesetzen unterliegt, die für unsere Endlichkeit unerforschlich sind, jenen Gesetzen, die dem Menschengeschick in der Geschichte seine Richtung geben. Wer hier maßgebliche Worte zu reden sich unterfängt, zieht sich den Vorwurf zu, daß ihm die Ehrfurcht vor dem geheimnisvoll-gött¬ lichen Werden der Kulturwerke nicht innewohnt. Über den Begriff der Kultur und ihren Unterschied gegenüber der Zivilisation hat uns ja dieser Krieg auch wieder nachdenken gelehrt. Daß wir die scharfe Zuspitzung der Antithese im ersten Teil von Thomas Manns kleinem Buch über Friedrich und die große Koalition als eine Überhöhung des Gegensätzlichen empfinden, mindert (wie bei Sombarts Buch über Händler und Helden) nicht deren erkenntnisfördernden Wert. Jedenfalls verstehen wir, daß Kultur eigenen Gesetzen folgt, sich nicht rationell züchten läßt, sondern naturgewachsen im einzelnen und im Volke aufblühe. Ich sehe den Ursprung der Kultur in der Entfaltung irrationaler Seelen- räfte des Einzelmenschen, deren Wurzeln im Unbewußten liegen. Es sind durchaus dunkle, unerforschliche Ereignisse, die sich hier darbieten. Ihr Hervor¬ treten hängt nur insoweit von äußeren Bedingungen ab, als dem Menschen erstens die seelische Verfassung gegeben sein muß, das Neue, das da wachsen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/110>, abgerufen am 17.06.2024.