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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropäische Kulturgedanken

will, ohne Störung von außen herauszubilden, und als zweitens äußere An¬
regungen und Anstöße dieses Wachsen fördern können. Aber diese äußeren
Bedingungen sind für jedes Individuum anderer Art und richten sich nach der
Beschaffenheit der keimartig in ihm liegenden Möglichkeiten. Diese sind das
Wesentliche, und wo sie fehlen, kann keine Kultur wachsen. So hängt es zwar
von der inneren Anlage und von den äußeren Gegebenheiten ab, ob die Ent¬
faltung der Kulturblüten in Form des Kunstwerkes, des schöpferischen Gedankens,
der wirksamen Tat vor sich geht. Aber ob sich überhaupt solche Blüten ent¬
falten, das mag man Schicksal oder Gottesgeschenk nennen. -- Im Individuum
also lebt und gestaltet sich Kultur. In anderem Sinne ist es, wenn wir von
einem Kulturvolk reden. Niemals sind alle Glieder eines Volkes fähig, Kultur
zu schaffen; wohl aber kann die Umwelt der Nation für die Würdigung und
Aufnahme von Werken der Kultur eine größere oder geringere Fähigkeit und
Offenheit in sich tragen. Insofern kann ein Volk, wenn auch nur mittelbar,
kulturfördernd genannt werden. Dazu aber kommt, daß der kultmbringende
Mensch selbst aus dem Geiste, der auch des Volkes ist. schafft, daß seine
unbewußten Tendenzen den Bedürfnissen des Volkes Erfüllung bieten, ja daß
sogar die Eigenart des Volkstums selbst es ist, die durch den Mund des
schöpferischen Volksgenossen sich realisiert. Von einer nationalen Kultur kann
man also wohl reden als von einer Harmonie aller Kulturleistungen der
einzelnen Volksgenossen, getragen von einer breiten Schicht zwar nicht schöpferischer,
aber verständnisvoll ausnehmender Seelen. So begreift es sich, daß jede Kultur
zwar aus individueller Leistung hervorgeht, aber nur national verstanden
werden kann. Zugleich aber auch -- da der Mensch nur zu seiner Nation in
einem naturgewachsenen organischen Verhältnis steht --: daß es keine Mensch¬
heitskultur geben kann. Denn der Begriff der Menschheit ist eine Abstraktion;
niemand ist von Natur Glied der Menschheit.

Mit dieser Auffassung von Kultur steht im Widerspruch, was, in der Zeit
der Jntellektüberschätzung verwachsen, noch heute als Kulturbegriff gang und
gäbe ist. Man spricht von kulturellen Fortschritt und denkt dabei an die
wachsende Herrschaft der Technik über die Naturkräfte. Es wird eine der
wichtigsten Aufgaben philosophischer Diskussion in nächster Zeit sein, hier
begriffliche Klärung herbeizuführen. Immer wieder begegnet es, daß besonders
rein naturwissenschaftlich geschulte Köpfe intellektuelle Beherrschung der Umwelt
mit Kultur gleichsetzen. Sie wissen dann freilich die Kunst, doch eine der
höchsten Wirkungsformen der Kultur, in ihren Kulturbegriff nicht einzuordnen.*)
Wenn Kulturentwicklung, wie neulich Max Verworn in seinen "Biologischen
Grundlagen der Kulturpolitik" **) ausgeführt hat, "in einer immer weitergehenden




*) Vgl. nieine Ausführungen über Will). Ostwalds Kulturphilosophie in den "Grenz¬
boten" 1911 Heft 33 bis 3ö, besonders S. 302 f.
**) Jena 1915, Gustav Fischer.
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Mitteleuropäische Kulturgedanken

will, ohne Störung von außen herauszubilden, und als zweitens äußere An¬
regungen und Anstöße dieses Wachsen fördern können. Aber diese äußeren
Bedingungen sind für jedes Individuum anderer Art und richten sich nach der
Beschaffenheit der keimartig in ihm liegenden Möglichkeiten. Diese sind das
Wesentliche, und wo sie fehlen, kann keine Kultur wachsen. So hängt es zwar
von der inneren Anlage und von den äußeren Gegebenheiten ab, ob die Ent¬
faltung der Kulturblüten in Form des Kunstwerkes, des schöpferischen Gedankens,
der wirksamen Tat vor sich geht. Aber ob sich überhaupt solche Blüten ent¬
falten, das mag man Schicksal oder Gottesgeschenk nennen. — Im Individuum
also lebt und gestaltet sich Kultur. In anderem Sinne ist es, wenn wir von
einem Kulturvolk reden. Niemals sind alle Glieder eines Volkes fähig, Kultur
zu schaffen; wohl aber kann die Umwelt der Nation für die Würdigung und
Aufnahme von Werken der Kultur eine größere oder geringere Fähigkeit und
Offenheit in sich tragen. Insofern kann ein Volk, wenn auch nur mittelbar,
kulturfördernd genannt werden. Dazu aber kommt, daß der kultmbringende
Mensch selbst aus dem Geiste, der auch des Volkes ist. schafft, daß seine
unbewußten Tendenzen den Bedürfnissen des Volkes Erfüllung bieten, ja daß
sogar die Eigenart des Volkstums selbst es ist, die durch den Mund des
schöpferischen Volksgenossen sich realisiert. Von einer nationalen Kultur kann
man also wohl reden als von einer Harmonie aller Kulturleistungen der
einzelnen Volksgenossen, getragen von einer breiten Schicht zwar nicht schöpferischer,
aber verständnisvoll ausnehmender Seelen. So begreift es sich, daß jede Kultur
zwar aus individueller Leistung hervorgeht, aber nur national verstanden
werden kann. Zugleich aber auch — da der Mensch nur zu seiner Nation in
einem naturgewachsenen organischen Verhältnis steht —: daß es keine Mensch¬
heitskultur geben kann. Denn der Begriff der Menschheit ist eine Abstraktion;
niemand ist von Natur Glied der Menschheit.

Mit dieser Auffassung von Kultur steht im Widerspruch, was, in der Zeit
der Jntellektüberschätzung verwachsen, noch heute als Kulturbegriff gang und
gäbe ist. Man spricht von kulturellen Fortschritt und denkt dabei an die
wachsende Herrschaft der Technik über die Naturkräfte. Es wird eine der
wichtigsten Aufgaben philosophischer Diskussion in nächster Zeit sein, hier
begriffliche Klärung herbeizuführen. Immer wieder begegnet es, daß besonders
rein naturwissenschaftlich geschulte Köpfe intellektuelle Beherrschung der Umwelt
mit Kultur gleichsetzen. Sie wissen dann freilich die Kunst, doch eine der
höchsten Wirkungsformen der Kultur, in ihren Kulturbegriff nicht einzuordnen.*)
Wenn Kulturentwicklung, wie neulich Max Verworn in seinen „Biologischen
Grundlagen der Kulturpolitik" **) ausgeführt hat, „in einer immer weitergehenden




*) Vgl. nieine Ausführungen über Will). Ostwalds Kulturphilosophie in den „Grenz¬
boten" 1911 Heft 33 bis 3ö, besonders S. 302 f.
**) Jena 1915, Gustav Fischer.
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[0111] Mitteleuropäische Kulturgedanken will, ohne Störung von außen herauszubilden, und als zweitens äußere An¬ regungen und Anstöße dieses Wachsen fördern können. Aber diese äußeren Bedingungen sind für jedes Individuum anderer Art und richten sich nach der Beschaffenheit der keimartig in ihm liegenden Möglichkeiten. Diese sind das Wesentliche, und wo sie fehlen, kann keine Kultur wachsen. So hängt es zwar von der inneren Anlage und von den äußeren Gegebenheiten ab, ob die Ent¬ faltung der Kulturblüten in Form des Kunstwerkes, des schöpferischen Gedankens, der wirksamen Tat vor sich geht. Aber ob sich überhaupt solche Blüten ent¬ falten, das mag man Schicksal oder Gottesgeschenk nennen. — Im Individuum also lebt und gestaltet sich Kultur. In anderem Sinne ist es, wenn wir von einem Kulturvolk reden. Niemals sind alle Glieder eines Volkes fähig, Kultur zu schaffen; wohl aber kann die Umwelt der Nation für die Würdigung und Aufnahme von Werken der Kultur eine größere oder geringere Fähigkeit und Offenheit in sich tragen. Insofern kann ein Volk, wenn auch nur mittelbar, kulturfördernd genannt werden. Dazu aber kommt, daß der kultmbringende Mensch selbst aus dem Geiste, der auch des Volkes ist. schafft, daß seine unbewußten Tendenzen den Bedürfnissen des Volkes Erfüllung bieten, ja daß sogar die Eigenart des Volkstums selbst es ist, die durch den Mund des schöpferischen Volksgenossen sich realisiert. Von einer nationalen Kultur kann man also wohl reden als von einer Harmonie aller Kulturleistungen der einzelnen Volksgenossen, getragen von einer breiten Schicht zwar nicht schöpferischer, aber verständnisvoll ausnehmender Seelen. So begreift es sich, daß jede Kultur zwar aus individueller Leistung hervorgeht, aber nur national verstanden werden kann. Zugleich aber auch — da der Mensch nur zu seiner Nation in einem naturgewachsenen organischen Verhältnis steht —: daß es keine Mensch¬ heitskultur geben kann. Denn der Begriff der Menschheit ist eine Abstraktion; niemand ist von Natur Glied der Menschheit. Mit dieser Auffassung von Kultur steht im Widerspruch, was, in der Zeit der Jntellektüberschätzung verwachsen, noch heute als Kulturbegriff gang und gäbe ist. Man spricht von kulturellen Fortschritt und denkt dabei an die wachsende Herrschaft der Technik über die Naturkräfte. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben philosophischer Diskussion in nächster Zeit sein, hier begriffliche Klärung herbeizuführen. Immer wieder begegnet es, daß besonders rein naturwissenschaftlich geschulte Köpfe intellektuelle Beherrschung der Umwelt mit Kultur gleichsetzen. Sie wissen dann freilich die Kunst, doch eine der höchsten Wirkungsformen der Kultur, in ihren Kulturbegriff nicht einzuordnen.*) Wenn Kulturentwicklung, wie neulich Max Verworn in seinen „Biologischen Grundlagen der Kulturpolitik" **) ausgeführt hat, „in einer immer weitergehenden *) Vgl. nieine Ausführungen über Will). Ostwalds Kulturphilosophie in den „Grenz¬ boten" 1911 Heft 33 bis 3ö, besonders S. 302 f. **) Jena 1915, Gustav Fischer. 7*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/111>, abgerufen am 17.06.2024.