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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropäische Rulturgcdankcn

Anpassung des Denkens an die umgebende Wirklichkeit und die durch sie
bedingten Bedürfnisse besteht", wenn sie nur gefördert werden kann durch
"Erziehung zum kritisch-experimentellen Denken", dann ist das Kunstwerk kein
Kulturwerk, denn bei seiner Entstehung sprechen weder die Bedürfnisse der
Wirklichkeit, wie sie hier gefaßt werden, noch das kritisch - experimentelle Denken
mit. In Wahrheit wird ja nicht leicht ein Kulturwerk ohne Mitwirkung des
Intellekts entstehen, aber niemals wird auch der sublimste Verstand allein ein
wahres Kulturwerk schaffen.

Dagegen liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung
zutage. Denn die Weltanschauung eines Menschen ist keineswegs, wie man
oft meint, das Ergebnis einer rein verstandesmäßigen Erwägung, sondern es
spielen auch hier irrationale Gemütskräfte mit, die den einzelnen diese und
gerade diese Stellung zu den großen Fragen des Daseins einnehmen lassen.
(Dasselbe gilt übrigens, soweit nicht Nützlichkeitsgründe mitwirken, von der
Parteizugehörigkeit.)

Von dem Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung geht denn
auch das neue Buch des Wiener Universitätsprofefsors Karl Camillo Schneider
aus, das sich mit der künftigen Kultur in Mitteleuropa beschäftigt.*) Nach
ihm soll mit dem "seelenverändernden Entschluß", der nach Friedrich Naumann
zum Eintritt in den mitteleuropäischen Wirtschaftsverband führt (vgl. "Grenz¬
boten" 1916 I, S. 353 ff.), Ernst gemacht werden: Mitteleuropa soll eine
gemeinsame Kultur erhalten. Hier stock ich schon: wie ist es möglich, daß
etwas so unzweifelhaft völkisch Begründetes wie die Kultur den verschiedenen
Völkern Mitteleuropas gemeinsam werden kann? Es tut sich ein Blick auf
in das Gebiet reizvoller Probleme, das die Möglichkeiten der kulturellen
Einwirkung auf Fremdvölker, der Rezeption von höherer Kultur bei unent¬
wickelten Stämmen, der als Reaktion eine Eigenkultur besonderer Richtung
folgen kann, die Entstehung von sogenannten Mischkulturen usw. umfaßt. Aber
man wird enttäuscht. Der Verfasser sieht von dem Gegebenen ab und sucht es
durch Neues zu ersetzen. Seine Wege gehen ins Weltfreude und Ziellofe.

Schon der erste Schritt ist bezeichnend. Die erste Voraussetzung für die
kulturelle Einheit ist nach Schneider die Einführung einer gemeinsamen Sprache,
die für alle gemeinsamen Angelegenheiten anzuwenden ist. Da eine zureichende
Kunstsprache erst erfunden werden muß, tritt als Notbehelf eine nationale
Sprache, die deutsche, ein. "Aber von vornherein müßte gesetzlich festgelegt
werden, daß das nur ein Interregnum bedeutet."

Wichtiger erscheint dem Verfasser die Ersetzung der nationalen Religionen
und Geisteskulturen durch eine gemeinsame. Denn die Religion, die Geistes¬
kultur des Menschen, "drückt gerade sein echtestes Wesen aus, weit mehr als
alle Zivilisation. Darum kann die Kultur nicht im Belieben des einzelnen



*) Mitteleuropa als Kulturbegriff, Wien und Leipzig 1916, Orion-Verlag,
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Anpassung des Denkens an die umgebende Wirklichkeit und die durch sie
bedingten Bedürfnisse besteht", wenn sie nur gefördert werden kann durch
„Erziehung zum kritisch-experimentellen Denken", dann ist das Kunstwerk kein
Kulturwerk, denn bei seiner Entstehung sprechen weder die Bedürfnisse der
Wirklichkeit, wie sie hier gefaßt werden, noch das kritisch - experimentelle Denken
mit. In Wahrheit wird ja nicht leicht ein Kulturwerk ohne Mitwirkung des
Intellekts entstehen, aber niemals wird auch der sublimste Verstand allein ein
wahres Kulturwerk schaffen.

Dagegen liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung
zutage. Denn die Weltanschauung eines Menschen ist keineswegs, wie man
oft meint, das Ergebnis einer rein verstandesmäßigen Erwägung, sondern es
spielen auch hier irrationale Gemütskräfte mit, die den einzelnen diese und
gerade diese Stellung zu den großen Fragen des Daseins einnehmen lassen.
(Dasselbe gilt übrigens, soweit nicht Nützlichkeitsgründe mitwirken, von der
Parteizugehörigkeit.)

Von dem Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung geht denn
auch das neue Buch des Wiener Universitätsprofefsors Karl Camillo Schneider
aus, das sich mit der künftigen Kultur in Mitteleuropa beschäftigt.*) Nach
ihm soll mit dem „seelenverändernden Entschluß", der nach Friedrich Naumann
zum Eintritt in den mitteleuropäischen Wirtschaftsverband führt (vgl. „Grenz¬
boten" 1916 I, S. 353 ff.), Ernst gemacht werden: Mitteleuropa soll eine
gemeinsame Kultur erhalten. Hier stock ich schon: wie ist es möglich, daß
etwas so unzweifelhaft völkisch Begründetes wie die Kultur den verschiedenen
Völkern Mitteleuropas gemeinsam werden kann? Es tut sich ein Blick auf
in das Gebiet reizvoller Probleme, das die Möglichkeiten der kulturellen
Einwirkung auf Fremdvölker, der Rezeption von höherer Kultur bei unent¬
wickelten Stämmen, der als Reaktion eine Eigenkultur besonderer Richtung
folgen kann, die Entstehung von sogenannten Mischkulturen usw. umfaßt. Aber
man wird enttäuscht. Der Verfasser sieht von dem Gegebenen ab und sucht es
durch Neues zu ersetzen. Seine Wege gehen ins Weltfreude und Ziellofe.

Schon der erste Schritt ist bezeichnend. Die erste Voraussetzung für die
kulturelle Einheit ist nach Schneider die Einführung einer gemeinsamen Sprache,
die für alle gemeinsamen Angelegenheiten anzuwenden ist. Da eine zureichende
Kunstsprache erst erfunden werden muß, tritt als Notbehelf eine nationale
Sprache, die deutsche, ein. „Aber von vornherein müßte gesetzlich festgelegt
werden, daß das nur ein Interregnum bedeutet."

Wichtiger erscheint dem Verfasser die Ersetzung der nationalen Religionen
und Geisteskulturen durch eine gemeinsame. Denn die Religion, die Geistes¬
kultur des Menschen, „drückt gerade sein echtestes Wesen aus, weit mehr als
alle Zivilisation. Darum kann die Kultur nicht im Belieben des einzelnen



*) Mitteleuropa als Kulturbegriff, Wien und Leipzig 1916, Orion-Verlag,
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[0112] Mitteleuropäische Rulturgcdankcn Anpassung des Denkens an die umgebende Wirklichkeit und die durch sie bedingten Bedürfnisse besteht", wenn sie nur gefördert werden kann durch „Erziehung zum kritisch-experimentellen Denken", dann ist das Kunstwerk kein Kulturwerk, denn bei seiner Entstehung sprechen weder die Bedürfnisse der Wirklichkeit, wie sie hier gefaßt werden, noch das kritisch - experimentelle Denken mit. In Wahrheit wird ja nicht leicht ein Kulturwerk ohne Mitwirkung des Intellekts entstehen, aber niemals wird auch der sublimste Verstand allein ein wahres Kulturwerk schaffen. Dagegen liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung zutage. Denn die Weltanschauung eines Menschen ist keineswegs, wie man oft meint, das Ergebnis einer rein verstandesmäßigen Erwägung, sondern es spielen auch hier irrationale Gemütskräfte mit, die den einzelnen diese und gerade diese Stellung zu den großen Fragen des Daseins einnehmen lassen. (Dasselbe gilt übrigens, soweit nicht Nützlichkeitsgründe mitwirken, von der Parteizugehörigkeit.) Von dem Zusammenhang zwischen Kultur und Weltanschauung geht denn auch das neue Buch des Wiener Universitätsprofefsors Karl Camillo Schneider aus, das sich mit der künftigen Kultur in Mitteleuropa beschäftigt.*) Nach ihm soll mit dem „seelenverändernden Entschluß", der nach Friedrich Naumann zum Eintritt in den mitteleuropäischen Wirtschaftsverband führt (vgl. „Grenz¬ boten" 1916 I, S. 353 ff.), Ernst gemacht werden: Mitteleuropa soll eine gemeinsame Kultur erhalten. Hier stock ich schon: wie ist es möglich, daß etwas so unzweifelhaft völkisch Begründetes wie die Kultur den verschiedenen Völkern Mitteleuropas gemeinsam werden kann? Es tut sich ein Blick auf in das Gebiet reizvoller Probleme, das die Möglichkeiten der kulturellen Einwirkung auf Fremdvölker, der Rezeption von höherer Kultur bei unent¬ wickelten Stämmen, der als Reaktion eine Eigenkultur besonderer Richtung folgen kann, die Entstehung von sogenannten Mischkulturen usw. umfaßt. Aber man wird enttäuscht. Der Verfasser sieht von dem Gegebenen ab und sucht es durch Neues zu ersetzen. Seine Wege gehen ins Weltfreude und Ziellofe. Schon der erste Schritt ist bezeichnend. Die erste Voraussetzung für die kulturelle Einheit ist nach Schneider die Einführung einer gemeinsamen Sprache, die für alle gemeinsamen Angelegenheiten anzuwenden ist. Da eine zureichende Kunstsprache erst erfunden werden muß, tritt als Notbehelf eine nationale Sprache, die deutsche, ein. „Aber von vornherein müßte gesetzlich festgelegt werden, daß das nur ein Interregnum bedeutet." Wichtiger erscheint dem Verfasser die Ersetzung der nationalen Religionen und Geisteskulturen durch eine gemeinsame. Denn die Religion, die Geistes¬ kultur des Menschen, „drückt gerade sein echtestes Wesen aus, weit mehr als alle Zivilisation. Darum kann die Kultur nicht im Belieben des einzelnen *) Mitteleuropa als Kulturbegriff, Wien und Leipzig 1916, Orion-Verlag,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/112>, abgerufen am 17.06.2024.