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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropäische Kulturgedanken

und der Völker stehen, sondern muß als Angelegenheit Mitteleuropas behandelt
werden." Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß dies Letzte bedeutet: durch
eine neuzuschaffende ersetzt werden. Man greift sich an den Kopf: weil die
Kultur die echteste Wesensäußerung des Menschen ist, muß sie verdrängt werden?
Aber das Neue muß ja etwas Besseres sein, nämlich die Synthese der ver¬
schiedenen nationalen Geistestendenzen, die den Antrieb zu der großen Organi-
sation bietet, in der alle Mitglieder, auch "die Frauen und die uns an-
zugliedernden slawischenVMer" (sol) auf ihre Rechnung kommen. Die Organisation
faßt Schneider als Verwirklichung einer Idee, die getragen ist von einem
geistigen Prinzip, das die Welt in einen Kosmos zu verwandeln strebt. Aber
nicht in der unbelebten Natur, nur in den lebenden Organismen und ihrer
Auswirkung gibt es dieses Prinzip der Harmonie, und daher gehört dem
Vitalismus, der sich gegen die mechanistische Naturphilosophie setzt, die Zukunft.
Auf Grund des Schneiderschen "Jdeevitalismus" oder "Aktivismus" soll die
künftige Weltanschauung Mitteleuropas auferbaut werden. Ihm ist das Leben
"ein Realisationsprozeß der Idee an der Natur unter der Assistenz Gottes und
des Nichts". So ergibt sich als Gegenstück zur neuen Philosophie auch eine
neue Religion. Beides ist in dem Schneiderschen Buche zu sehr in Andeutungen
gehalten, als daß ein klares Urteil darüber zu gewinnen wäre. Hier genügt
es, darauf zu verweisen, daß die Realisierung der Idee des Kosmos, der
Harmonie jeder organisatorischen Leistung, so auch dem deutschen Militarismus
als Sinn zugrunde liegt. In der Betrachtung des Geschichtsverlaufes glaubt
Schneider zu beobachten, daß die individualistische Basis in Kultur und Zivilisation
das Altertum und das bis heute reichende Mittelalter beherrscht hat. An ihre
Stelle tritt jetzt eine Jdeenlehre, deren Prinzip von der individualistischen Nütz¬
lichkeit zum Kosmos als Entwicklungszweck hinstrebt.

Daß wir Deutschen die Träger des neuen Gedankens seien, sucht der
Verfasser durch rassenmäßige Begründungen zu stützen. Hiernach wäre der
Semitismus bisher herrschend gewesen; neben ihm habe das Ariertum nur
gelegentlich die Idee zu Ehren zu bringen versucht, von Pluto bis zur neueren
Jdealphilosophie, aber ohne Erfolg im ganzen. Diese Ausführungen gehören
zum Schwächsten des ganzen Buches; über die psychischen und Willenstendenzen
verschiedener Rassen sind wir denn doch noch viel zu wenig im Klaren, als
daß wir sie zu einer Philosophie des historischen Geschehens verwenden könnten.
Und Schneider selbst fühlt sich in der Zurechnung der einen oder anderen
Erscheinung zum semitischen oder zum arischen Komplex so unsicher, daß er an
späterer Stelle teilweise wieder aufhebt, was er früher gesagt hat.

Bleibt also hiernach noch manches verschwommen, so wird die Frage
besonders wichtig, mit welchen Stützen Schneider dieses luftige Gebilde auf der
wohlgegründeten dauernden Erde Mitteleuropas fundieren, mit welchen Kräften
er die Vorwärtsbewegung zum idealen Zweck erreichen will. Eine Weltenwende
sollen wir erleben. Die zweite Hauptperiode der Universalgeschichte beginnt


Mitteleuropäische Kulturgedanken

und der Völker stehen, sondern muß als Angelegenheit Mitteleuropas behandelt
werden." Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß dies Letzte bedeutet: durch
eine neuzuschaffende ersetzt werden. Man greift sich an den Kopf: weil die
Kultur die echteste Wesensäußerung des Menschen ist, muß sie verdrängt werden?
Aber das Neue muß ja etwas Besseres sein, nämlich die Synthese der ver¬
schiedenen nationalen Geistestendenzen, die den Antrieb zu der großen Organi-
sation bietet, in der alle Mitglieder, auch „die Frauen und die uns an-
zugliedernden slawischenVMer" (sol) auf ihre Rechnung kommen. Die Organisation
faßt Schneider als Verwirklichung einer Idee, die getragen ist von einem
geistigen Prinzip, das die Welt in einen Kosmos zu verwandeln strebt. Aber
nicht in der unbelebten Natur, nur in den lebenden Organismen und ihrer
Auswirkung gibt es dieses Prinzip der Harmonie, und daher gehört dem
Vitalismus, der sich gegen die mechanistische Naturphilosophie setzt, die Zukunft.
Auf Grund des Schneiderschen „Jdeevitalismus" oder „Aktivismus" soll die
künftige Weltanschauung Mitteleuropas auferbaut werden. Ihm ist das Leben
„ein Realisationsprozeß der Idee an der Natur unter der Assistenz Gottes und
des Nichts". So ergibt sich als Gegenstück zur neuen Philosophie auch eine
neue Religion. Beides ist in dem Schneiderschen Buche zu sehr in Andeutungen
gehalten, als daß ein klares Urteil darüber zu gewinnen wäre. Hier genügt
es, darauf zu verweisen, daß die Realisierung der Idee des Kosmos, der
Harmonie jeder organisatorischen Leistung, so auch dem deutschen Militarismus
als Sinn zugrunde liegt. In der Betrachtung des Geschichtsverlaufes glaubt
Schneider zu beobachten, daß die individualistische Basis in Kultur und Zivilisation
das Altertum und das bis heute reichende Mittelalter beherrscht hat. An ihre
Stelle tritt jetzt eine Jdeenlehre, deren Prinzip von der individualistischen Nütz¬
lichkeit zum Kosmos als Entwicklungszweck hinstrebt.

Daß wir Deutschen die Träger des neuen Gedankens seien, sucht der
Verfasser durch rassenmäßige Begründungen zu stützen. Hiernach wäre der
Semitismus bisher herrschend gewesen; neben ihm habe das Ariertum nur
gelegentlich die Idee zu Ehren zu bringen versucht, von Pluto bis zur neueren
Jdealphilosophie, aber ohne Erfolg im ganzen. Diese Ausführungen gehören
zum Schwächsten des ganzen Buches; über die psychischen und Willenstendenzen
verschiedener Rassen sind wir denn doch noch viel zu wenig im Klaren, als
daß wir sie zu einer Philosophie des historischen Geschehens verwenden könnten.
Und Schneider selbst fühlt sich in der Zurechnung der einen oder anderen
Erscheinung zum semitischen oder zum arischen Komplex so unsicher, daß er an
späterer Stelle teilweise wieder aufhebt, was er früher gesagt hat.

Bleibt also hiernach noch manches verschwommen, so wird die Frage
besonders wichtig, mit welchen Stützen Schneider dieses luftige Gebilde auf der
wohlgegründeten dauernden Erde Mitteleuropas fundieren, mit welchen Kräften
er die Vorwärtsbewegung zum idealen Zweck erreichen will. Eine Weltenwende
sollen wir erleben. Die zweite Hauptperiode der Universalgeschichte beginnt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/113>, abgerufen am 17.06.2024.