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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Mitteleuropäische Uulturgedankcn

mit ihr. Ungeheure Kräfte, unerhörte Geschehnisse müssen die Menschheit mit
einem Ruck in die neue Richtung werfen -- sollte man denken --, und da
sich die Wendung in den Menschen vollziehen soll, als "Seelenveränderung",
muß an eine Entbindung seelischer Potenzen von nie dagewesener Intensität
gedacht werden.

Und wie denkt sich das Schneider? Es muß eine neue Partei gegründet
werden. Sie muß eine allgemeingültige, von der Regierung anzuerkennende
Weltanschauung als Kulturform für Mitteleuropa ausarbeiten. Sie nutz den
Lehrstoff für die Erziehung der künftigen Mitteleuropäer festlegen, nicht wissen¬
schaftlichen (d. h. im bisherigen Sinn naturwissenschaftlichen), sondern historischen.
Sie muß drittens auf den Hochschulen die Forschung von Unterricht trennen.
Sie muß endlich alle Organisationen, welcher Art auch immer, vervollkommnen.
"Und unsere Nachkommen werden staunen, daß einmal ein Zeitalter möglich war,
in dem der vergängliche einzelne alles bedeutete und die ewige Idee so gut
wie nichts."

Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Die Diskrepanz zwischen Ziel
und Mitteln ist zu kraß, als daß ein weiteres Wort erforderlich wäre. Diese
Ausführung seines Wortes hätte sich Herr Naumann gewiß nicht träumen
lassen. --

Paul de Lagarde hat einmal gesagt: "Menschen und Völker schreiten auf
zwei Wegen vorwärts. Entweder so, daß in langsamem Wachstum sich jedes
Höhere aus dem nächst Tieferen, jedes Vollkommenere aus dem nächstweniger
Vollkommenen entwickelt, oder aber so, daß, nachdem elementare Gewalt den
ungenügenden Zustand der Dinge über den Haufen geworfen hat, infolge des
Unglücks die Betroffenen, welche nunmehr vor dem hellen Tode stehen, sich gezwungen
finden, alle ihre Kräfte zur Herstellung eines genügenden Zustandes einzusetzen."
Heute sehen wir, daß das, was auf dem Wege der Evolution noch lange nicht
sich gestaltet hätte, durch die Katastrophe des Weltkrieges entsteht, ein Mittel¬
europa ähnlich dem, das Lagarde schon vor mehr als sechzig Jahren vorausgesehen
hat. Welche staatsrechtlichen Formen die neue Einheit tragen wird, welche
politischen Ideale sich darin verwirklichen werden, dürfen wir kaum ahnen.
Und welche Kultur darin erblühen soll? Genug, daß man die hoffenden Seelen
vor ungesunden Seelenveränderungen warnt; daß man den Boden, der die neue
Pflanze tragen wird, vor dem Überwuchern störender Kräuter schützt. In der
Tiefe liegen Keime genug, und wir sind stolz, daß es deutsche Keime sein werden,
die diesem Kulturgebiet seinen Charakter geben. Man warte, was da wachsen
will, und meine nicht, daß es eine uniforme Kultur sein müsse. Das wäre
undeutsch.

Und man rufe nicht den Staat zum Paten für den Nasciturus an. Im
Kulturgebiete kann er nur Schützer fein, nicht Pflanzer. "Kunst, Wissenschaft,
Religion," hat ebenfalls Lagarde gesagt, "sind zwar im Staate, aber nicht
Organe des Staates." Freilich, Schneider kennt Lagarde nicht; er zitiert ein


Mitteleuropäische Uulturgedankcn

mit ihr. Ungeheure Kräfte, unerhörte Geschehnisse müssen die Menschheit mit
einem Ruck in die neue Richtung werfen — sollte man denken —, und da
sich die Wendung in den Menschen vollziehen soll, als „Seelenveränderung",
muß an eine Entbindung seelischer Potenzen von nie dagewesener Intensität
gedacht werden.

Und wie denkt sich das Schneider? Es muß eine neue Partei gegründet
werden. Sie muß eine allgemeingültige, von der Regierung anzuerkennende
Weltanschauung als Kulturform für Mitteleuropa ausarbeiten. Sie nutz den
Lehrstoff für die Erziehung der künftigen Mitteleuropäer festlegen, nicht wissen¬
schaftlichen (d. h. im bisherigen Sinn naturwissenschaftlichen), sondern historischen.
Sie muß drittens auf den Hochschulen die Forschung von Unterricht trennen.
Sie muß endlich alle Organisationen, welcher Art auch immer, vervollkommnen.
„Und unsere Nachkommen werden staunen, daß einmal ein Zeitalter möglich war,
in dem der vergängliche einzelne alles bedeutete und die ewige Idee so gut
wie nichts."

Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Die Diskrepanz zwischen Ziel
und Mitteln ist zu kraß, als daß ein weiteres Wort erforderlich wäre. Diese
Ausführung seines Wortes hätte sich Herr Naumann gewiß nicht träumen
lassen. —

Paul de Lagarde hat einmal gesagt: „Menschen und Völker schreiten auf
zwei Wegen vorwärts. Entweder so, daß in langsamem Wachstum sich jedes
Höhere aus dem nächst Tieferen, jedes Vollkommenere aus dem nächstweniger
Vollkommenen entwickelt, oder aber so, daß, nachdem elementare Gewalt den
ungenügenden Zustand der Dinge über den Haufen geworfen hat, infolge des
Unglücks die Betroffenen, welche nunmehr vor dem hellen Tode stehen, sich gezwungen
finden, alle ihre Kräfte zur Herstellung eines genügenden Zustandes einzusetzen."
Heute sehen wir, daß das, was auf dem Wege der Evolution noch lange nicht
sich gestaltet hätte, durch die Katastrophe des Weltkrieges entsteht, ein Mittel¬
europa ähnlich dem, das Lagarde schon vor mehr als sechzig Jahren vorausgesehen
hat. Welche staatsrechtlichen Formen die neue Einheit tragen wird, welche
politischen Ideale sich darin verwirklichen werden, dürfen wir kaum ahnen.
Und welche Kultur darin erblühen soll? Genug, daß man die hoffenden Seelen
vor ungesunden Seelenveränderungen warnt; daß man den Boden, der die neue
Pflanze tragen wird, vor dem Überwuchern störender Kräuter schützt. In der
Tiefe liegen Keime genug, und wir sind stolz, daß es deutsche Keime sein werden,
die diesem Kulturgebiet seinen Charakter geben. Man warte, was da wachsen
will, und meine nicht, daß es eine uniforme Kultur sein müsse. Das wäre
undeutsch.

Und man rufe nicht den Staat zum Paten für den Nasciturus an. Im
Kulturgebiete kann er nur Schützer fein, nicht Pflanzer. „Kunst, Wissenschaft,
Religion," hat ebenfalls Lagarde gesagt, „sind zwar im Staate, aber nicht
Organe des Staates." Freilich, Schneider kennt Lagarde nicht; er zitiert ein


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[0114] Mitteleuropäische Uulturgedankcn mit ihr. Ungeheure Kräfte, unerhörte Geschehnisse müssen die Menschheit mit einem Ruck in die neue Richtung werfen — sollte man denken —, und da sich die Wendung in den Menschen vollziehen soll, als „Seelenveränderung", muß an eine Entbindung seelischer Potenzen von nie dagewesener Intensität gedacht werden. Und wie denkt sich das Schneider? Es muß eine neue Partei gegründet werden. Sie muß eine allgemeingültige, von der Regierung anzuerkennende Weltanschauung als Kulturform für Mitteleuropa ausarbeiten. Sie nutz den Lehrstoff für die Erziehung der künftigen Mitteleuropäer festlegen, nicht wissen¬ schaftlichen (d. h. im bisherigen Sinn naturwissenschaftlichen), sondern historischen. Sie muß drittens auf den Hochschulen die Forschung von Unterricht trennen. Sie muß endlich alle Organisationen, welcher Art auch immer, vervollkommnen. „Und unsere Nachkommen werden staunen, daß einmal ein Zeitalter möglich war, in dem der vergängliche einzelne alles bedeutete und die ewige Idee so gut wie nichts." Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Die Diskrepanz zwischen Ziel und Mitteln ist zu kraß, als daß ein weiteres Wort erforderlich wäre. Diese Ausführung seines Wortes hätte sich Herr Naumann gewiß nicht träumen lassen. — Paul de Lagarde hat einmal gesagt: „Menschen und Völker schreiten auf zwei Wegen vorwärts. Entweder so, daß in langsamem Wachstum sich jedes Höhere aus dem nächst Tieferen, jedes Vollkommenere aus dem nächstweniger Vollkommenen entwickelt, oder aber so, daß, nachdem elementare Gewalt den ungenügenden Zustand der Dinge über den Haufen geworfen hat, infolge des Unglücks die Betroffenen, welche nunmehr vor dem hellen Tode stehen, sich gezwungen finden, alle ihre Kräfte zur Herstellung eines genügenden Zustandes einzusetzen." Heute sehen wir, daß das, was auf dem Wege der Evolution noch lange nicht sich gestaltet hätte, durch die Katastrophe des Weltkrieges entsteht, ein Mittel¬ europa ähnlich dem, das Lagarde schon vor mehr als sechzig Jahren vorausgesehen hat. Welche staatsrechtlichen Formen die neue Einheit tragen wird, welche politischen Ideale sich darin verwirklichen werden, dürfen wir kaum ahnen. Und welche Kultur darin erblühen soll? Genug, daß man die hoffenden Seelen vor ungesunden Seelenveränderungen warnt; daß man den Boden, der die neue Pflanze tragen wird, vor dem Überwuchern störender Kräuter schützt. In der Tiefe liegen Keime genug, und wir sind stolz, daß es deutsche Keime sein werden, die diesem Kulturgebiet seinen Charakter geben. Man warte, was da wachsen will, und meine nicht, daß es eine uniforme Kultur sein müsse. Das wäre undeutsch. Und man rufe nicht den Staat zum Paten für den Nasciturus an. Im Kulturgebiete kann er nur Schützer fein, nicht Pflanzer. „Kunst, Wissenschaft, Religion," hat ebenfalls Lagarde gesagt, „sind zwar im Staate, aber nicht Organe des Staates." Freilich, Schneider kennt Lagarde nicht; er zitiert ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/114>, abgerufen am 17.06.2024.