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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

der wesentlich für Zwecke des Heeres bestimmten Steuern und unter der Devise,
für die Steuerfähigkeit der Untertanen sorgen zu müssen, einen Zweig der
inneren Verwaltung nach dem anderen nebst der entsprechenden Attributivjustiz
für sich in Anspruch. Damit war seit Anfang der achtziger Jahre auch der
einheitliche Kriegsstaat vollendet.

Seit der Königskrönung von 1701 fand sich für den neuen Gesamtstaat
auch der einheitliche Titel, es ist der der königlich preußischen Staaten, der bis
zum Jahre 1907 aus unserer Gesetzsammlung geprangt hat. Denn der
Königstitel, obgleich nur auf Ostpreußen gegründet, wurde im ganzen Ge¬
samtstaate angewendet. Überall waren königlich preußische Truppen und Be¬
hörden. Der neue Titel deutet an, daß die einzelnen Gebiete nicht mehr durch
bloße Personalunion miteinander verbunden sind, sondern eine organische
Einheit bilden. Aber es ist ein Gesamtstaat, noch kein Einheitsstaat. Soweit
die Stände noch in einzelnen Einrichtungen wirksam sind, bilden die ver-
schiedenen Gebiete noch Staaten. Und das Reich hat bis zu seinem Unter¬
gange keinen preußischen Gesamtstaat gekannt, sondern nur einen König in
Preußen und später von Preußen als auswärtigen Monarchen, der gleichzeitig
Markgraf von Brandenburg war und als solcher eine Stimme im Kurfürsten¬
kollegium hatte und ebenso zufällig als Herzog von Magdeburg, Fürst von
Halberstadt und von Minden eine Reihe von Stimmen im Fürstenkollegium
des Reichstages.

Doch diese verfallenden Mächte der Stände und des Reiches konnten den
Gang der Geschichte nicht aufhalten. Mit dem Untergange des alten Reiches
und der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung waren die letzten Hemmnisse be¬
seitigt, die noch der vollständigen Einheit entgegenstanden. Seitdem gab es
nur noch den preußischen Einheitsstaat, den die Verfassungsurkunde als selbst¬
verständlich gegeben voraussetzt.

Seit Montesquieu 1748 in seinem lZ8put ach I^vis das Idealbild der
englischen Verfassung gezeichnet hatte, galt sie den Völkern des Festlandes als
Ziel des eigenen politischen Strebens. Der Kern dieser Verfassung war das
englische Parlament. Gneist rechtfertigt 1884 die ihm gewidmete Aufmerksamkeit
schon allein aus den Erfolgen. Denn in diesen Räumen sei ein Staatswesen
begründet worden, welches in seiner damaligen Gestalt ein Siebentel der be¬
wohnten Erde, ein Viertel der gesamten Menschheit in sich fasse.

Nur wäre nichts verkehrter als die Folgerung, daß dieses Viertel der ge¬
samten Menschheit im englischen Parlamente vertreten sei. Das englische
Parlament nimmt zwar das Recht für sich in Anspruch, entweder unmittelbar
oder durch das aus seiner jeweiligen Mehrheit hervorgegangene Kabinett dem
gesamten britischen Weltreiche zu gebieten, aber eine Volksvertretung ist es nur
für die Bevölkerung von Großbritannien und Irland.

Daß über ein Viertel der Menschheit dem britischen Weltreiche angehört,
hat es in erster Linie dem dicht bevölkerten Indien zu verdanken. Indien,


Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

der wesentlich für Zwecke des Heeres bestimmten Steuern und unter der Devise,
für die Steuerfähigkeit der Untertanen sorgen zu müssen, einen Zweig der
inneren Verwaltung nach dem anderen nebst der entsprechenden Attributivjustiz
für sich in Anspruch. Damit war seit Anfang der achtziger Jahre auch der
einheitliche Kriegsstaat vollendet.

Seit der Königskrönung von 1701 fand sich für den neuen Gesamtstaat
auch der einheitliche Titel, es ist der der königlich preußischen Staaten, der bis
zum Jahre 1907 aus unserer Gesetzsammlung geprangt hat. Denn der
Königstitel, obgleich nur auf Ostpreußen gegründet, wurde im ganzen Ge¬
samtstaate angewendet. Überall waren königlich preußische Truppen und Be¬
hörden. Der neue Titel deutet an, daß die einzelnen Gebiete nicht mehr durch
bloße Personalunion miteinander verbunden sind, sondern eine organische
Einheit bilden. Aber es ist ein Gesamtstaat, noch kein Einheitsstaat. Soweit
die Stände noch in einzelnen Einrichtungen wirksam sind, bilden die ver-
schiedenen Gebiete noch Staaten. Und das Reich hat bis zu seinem Unter¬
gange keinen preußischen Gesamtstaat gekannt, sondern nur einen König in
Preußen und später von Preußen als auswärtigen Monarchen, der gleichzeitig
Markgraf von Brandenburg war und als solcher eine Stimme im Kurfürsten¬
kollegium hatte und ebenso zufällig als Herzog von Magdeburg, Fürst von
Halberstadt und von Minden eine Reihe von Stimmen im Fürstenkollegium
des Reichstages.

Doch diese verfallenden Mächte der Stände und des Reiches konnten den
Gang der Geschichte nicht aufhalten. Mit dem Untergange des alten Reiches
und der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung waren die letzten Hemmnisse be¬
seitigt, die noch der vollständigen Einheit entgegenstanden. Seitdem gab es
nur noch den preußischen Einheitsstaat, den die Verfassungsurkunde als selbst¬
verständlich gegeben voraussetzt.

Seit Montesquieu 1748 in seinem lZ8put ach I^vis das Idealbild der
englischen Verfassung gezeichnet hatte, galt sie den Völkern des Festlandes als
Ziel des eigenen politischen Strebens. Der Kern dieser Verfassung war das
englische Parlament. Gneist rechtfertigt 1884 die ihm gewidmete Aufmerksamkeit
schon allein aus den Erfolgen. Denn in diesen Räumen sei ein Staatswesen
begründet worden, welches in seiner damaligen Gestalt ein Siebentel der be¬
wohnten Erde, ein Viertel der gesamten Menschheit in sich fasse.

Nur wäre nichts verkehrter als die Folgerung, daß dieses Viertel der ge¬
samten Menschheit im englischen Parlamente vertreten sei. Das englische
Parlament nimmt zwar das Recht für sich in Anspruch, entweder unmittelbar
oder durch das aus seiner jeweiligen Mehrheit hervorgegangene Kabinett dem
gesamten britischen Weltreiche zu gebieten, aber eine Volksvertretung ist es nur
für die Bevölkerung von Großbritannien und Irland.

Daß über ein Viertel der Menschheit dem britischen Weltreiche angehört,
hat es in erster Linie dem dicht bevölkerten Indien zu verdanken. Indien,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/120>, abgerufen am 17.06.2024.