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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

obwohl mit dem Titel eines Kaiserreiches ausgezeichnet, ist um zunächst reines
Untertanenland. Dasselbe gilt von allen tropischen Kolonien Englands mit
vorwiegend einheimischer Bevölkerung. Sie sind reine Ausbeutungsgebiete, die
nur Objekt der Regierung sein können.

Es handelt sich nur um die großen Siedelungskolonien mit europäischer
Bevölkerung und KöZponsiblL Oovernment. Dem äußeren Anschein nach sind sie
Staaten, ja Bundesstaaten mit eigenen parlamentarischen Ministerien, und doch
bilden Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika nur überseeische Provinzen
mit ausgedehnter Selbstverwaltung in ihrer Verfassung, die englisches Parlaments¬
gesetz ist, unbedingt der Souveränität des Mutterlandes untergeben. Nach der
traurigen Erfahrung, die England mit dem Abfalle der Vereinigten Staaten
gemacht, hat es seinen Siedelungskolonien einen weiten Spielraum und große
Freiheit gewährt. Und doch hängen sie nicht nur äußerlich mit dem Mutter¬
lande zusammen. Gerade der Weltkrieg hat gezeigt, wie sie sich ihm auch
innerlich bis zur Selbstvernichtung verbunden fühlen. Gerade diese innerliche
Verbindung rückt das Problem des Reichsbundes, der inneren organischen Ver¬
schmelzung, näher. Seine Lösung ruht in der Zukunft Schoße. Doch gerade
daß das Problem vorliegt, zeigt, wie England es verstanden hat, weite Gebiete
trotz geographischer Trennung ohne vollständige Einverleibung sich allmählich
politisch und wirtschaftlich zu verbinden, daß sich alle nur als Teile des
britischen Weltreiches fühlen.

Und endlich das zweite große Weltreich der Gegenwart, Rußland, tritt
uns entgegen, umgeben von einem breiten Gürtel der Fremdstämmigen. Wie
weite Gebiete des russischen Reiches auch die verbündeten Mächte besetzt haben
mögen, der Boden großrussischen Volkstums ist noch lange nicht erreicht,
die Fremdstämmigen legen sich wie ein schützender Wall davor.

Solange die wesentlich germanische Staatsbildung Peters des Großen
und seiner Nachfolger bestand, d. h. bis zu Alexander dem Ersten, hatte die
herrschende Klasse es auch verstanden, diese Fremdstämmigen in Rechtsformen
an das Reich anzugliedern, die sie befriedigten und mit Hingabe an das
Reich erfüllten. Mannigfach waren diese Formen, aber sie leisteten, was sie
sollten. Finnland war völkerrechtlich ein Teil Rußlands, aber staatsrechtlich ein
eigenes Großfürstentum mit der von Schweden übernommenen ständischen Ver¬
fassung. Die baltischen Provinzen gehörten zwar auch staatsrechtlich zu Ru߬
land, aber mit ausgedehnter Selbstverwaltung der herrschenden deutschen
Klassen, so daß man außer der russischen Besatzung von der russischen Staats¬
gewalt kaum etwas merkte. Kongreß-Polen endlich war ein besonderes kon¬
stitutionelles Königreich sogar mit eigenem Heere. Erst als mit Nikolaus dem
Ersten das politisch unfähige Moskowitertum zur Herrschaft gelangte, zerstörte
es nach und nach im Interesse einer vermeintlichen Staatseinheit alle diese
selbständigen Bildungen, ohne etwas neues an die Stelle setzen zu können.
Erst damit entstand für Rußland die schwierige Frage der Fremdstämmigen.


Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

obwohl mit dem Titel eines Kaiserreiches ausgezeichnet, ist um zunächst reines
Untertanenland. Dasselbe gilt von allen tropischen Kolonien Englands mit
vorwiegend einheimischer Bevölkerung. Sie sind reine Ausbeutungsgebiete, die
nur Objekt der Regierung sein können.

Es handelt sich nur um die großen Siedelungskolonien mit europäischer
Bevölkerung und KöZponsiblL Oovernment. Dem äußeren Anschein nach sind sie
Staaten, ja Bundesstaaten mit eigenen parlamentarischen Ministerien, und doch
bilden Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika nur überseeische Provinzen
mit ausgedehnter Selbstverwaltung in ihrer Verfassung, die englisches Parlaments¬
gesetz ist, unbedingt der Souveränität des Mutterlandes untergeben. Nach der
traurigen Erfahrung, die England mit dem Abfalle der Vereinigten Staaten
gemacht, hat es seinen Siedelungskolonien einen weiten Spielraum und große
Freiheit gewährt. Und doch hängen sie nicht nur äußerlich mit dem Mutter¬
lande zusammen. Gerade der Weltkrieg hat gezeigt, wie sie sich ihm auch
innerlich bis zur Selbstvernichtung verbunden fühlen. Gerade diese innerliche
Verbindung rückt das Problem des Reichsbundes, der inneren organischen Ver¬
schmelzung, näher. Seine Lösung ruht in der Zukunft Schoße. Doch gerade
daß das Problem vorliegt, zeigt, wie England es verstanden hat, weite Gebiete
trotz geographischer Trennung ohne vollständige Einverleibung sich allmählich
politisch und wirtschaftlich zu verbinden, daß sich alle nur als Teile des
britischen Weltreiches fühlen.

Und endlich das zweite große Weltreich der Gegenwart, Rußland, tritt
uns entgegen, umgeben von einem breiten Gürtel der Fremdstämmigen. Wie
weite Gebiete des russischen Reiches auch die verbündeten Mächte besetzt haben
mögen, der Boden großrussischen Volkstums ist noch lange nicht erreicht,
die Fremdstämmigen legen sich wie ein schützender Wall davor.

Solange die wesentlich germanische Staatsbildung Peters des Großen
und seiner Nachfolger bestand, d. h. bis zu Alexander dem Ersten, hatte die
herrschende Klasse es auch verstanden, diese Fremdstämmigen in Rechtsformen
an das Reich anzugliedern, die sie befriedigten und mit Hingabe an das
Reich erfüllten. Mannigfach waren diese Formen, aber sie leisteten, was sie
sollten. Finnland war völkerrechtlich ein Teil Rußlands, aber staatsrechtlich ein
eigenes Großfürstentum mit der von Schweden übernommenen ständischen Ver¬
fassung. Die baltischen Provinzen gehörten zwar auch staatsrechtlich zu Ru߬
land, aber mit ausgedehnter Selbstverwaltung der herrschenden deutschen
Klassen, so daß man außer der russischen Besatzung von der russischen Staats¬
gewalt kaum etwas merkte. Kongreß-Polen endlich war ein besonderes kon¬
stitutionelles Königreich sogar mit eigenem Heere. Erst als mit Nikolaus dem
Ersten das politisch unfähige Moskowitertum zur Herrschaft gelangte, zerstörte
es nach und nach im Interesse einer vermeintlichen Staatseinheit alle diese
selbständigen Bildungen, ohne etwas neues an die Stelle setzen zu können.
Erst damit entstand für Rußland die schwierige Frage der Fremdstämmigen.


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[0121] Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete obwohl mit dem Titel eines Kaiserreiches ausgezeichnet, ist um zunächst reines Untertanenland. Dasselbe gilt von allen tropischen Kolonien Englands mit vorwiegend einheimischer Bevölkerung. Sie sind reine Ausbeutungsgebiete, die nur Objekt der Regierung sein können. Es handelt sich nur um die großen Siedelungskolonien mit europäischer Bevölkerung und KöZponsiblL Oovernment. Dem äußeren Anschein nach sind sie Staaten, ja Bundesstaaten mit eigenen parlamentarischen Ministerien, und doch bilden Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika nur überseeische Provinzen mit ausgedehnter Selbstverwaltung in ihrer Verfassung, die englisches Parlaments¬ gesetz ist, unbedingt der Souveränität des Mutterlandes untergeben. Nach der traurigen Erfahrung, die England mit dem Abfalle der Vereinigten Staaten gemacht, hat es seinen Siedelungskolonien einen weiten Spielraum und große Freiheit gewährt. Und doch hängen sie nicht nur äußerlich mit dem Mutter¬ lande zusammen. Gerade der Weltkrieg hat gezeigt, wie sie sich ihm auch innerlich bis zur Selbstvernichtung verbunden fühlen. Gerade diese innerliche Verbindung rückt das Problem des Reichsbundes, der inneren organischen Ver¬ schmelzung, näher. Seine Lösung ruht in der Zukunft Schoße. Doch gerade daß das Problem vorliegt, zeigt, wie England es verstanden hat, weite Gebiete trotz geographischer Trennung ohne vollständige Einverleibung sich allmählich politisch und wirtschaftlich zu verbinden, daß sich alle nur als Teile des britischen Weltreiches fühlen. Und endlich das zweite große Weltreich der Gegenwart, Rußland, tritt uns entgegen, umgeben von einem breiten Gürtel der Fremdstämmigen. Wie weite Gebiete des russischen Reiches auch die verbündeten Mächte besetzt haben mögen, der Boden großrussischen Volkstums ist noch lange nicht erreicht, die Fremdstämmigen legen sich wie ein schützender Wall davor. Solange die wesentlich germanische Staatsbildung Peters des Großen und seiner Nachfolger bestand, d. h. bis zu Alexander dem Ersten, hatte die herrschende Klasse es auch verstanden, diese Fremdstämmigen in Rechtsformen an das Reich anzugliedern, die sie befriedigten und mit Hingabe an das Reich erfüllten. Mannigfach waren diese Formen, aber sie leisteten, was sie sollten. Finnland war völkerrechtlich ein Teil Rußlands, aber staatsrechtlich ein eigenes Großfürstentum mit der von Schweden übernommenen ständischen Ver¬ fassung. Die baltischen Provinzen gehörten zwar auch staatsrechtlich zu Ru߬ land, aber mit ausgedehnter Selbstverwaltung der herrschenden deutschen Klassen, so daß man außer der russischen Besatzung von der russischen Staats¬ gewalt kaum etwas merkte. Kongreß-Polen endlich war ein besonderes kon¬ stitutionelles Königreich sogar mit eigenem Heere. Erst als mit Nikolaus dem Ersten das politisch unfähige Moskowitertum zur Herrschaft gelangte, zerstörte es nach und nach im Interesse einer vermeintlichen Staatseinheit alle diese selbständigen Bildungen, ohne etwas neues an die Stelle setzen zu können. Erst damit entstand für Rußland die schwierige Frage der Fremdstämmigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/121>, abgerufen am 17.06.2024.