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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

Wie sie aber noch heute der Schutz Rußlands sind, hat gerade der Krieg
gezeigt.

Auch Bismarck wollte 1866 die neuen Provinzen nicht einfach Preußen
einverleiben, sondern unter Aufrechterhaltung ihrer Verfassung sollte der König
von Preußen gleichzeitig König von Hannover, Kurfürst von Hessen, Herzog
von Schleswig-Holstein und von Nassau und Herr von Frankfurt werden.
Damit wäre der Übergang schonend vorbereitet worden. Erst das Abgeordenten-
haus machte einen Strich durch diese Pläne unter dem Schlagworte: Nicht
Personalunion, sondern Realunion, d. h. Einverleibung.

Überaus mannigfach sind die Bilder, die wir in kurzen Umrissen an
unseren Augen haben vorüberziehen sehen. Das sollten sie auch sein. Denn
sie zeigen, in wie vielfachen Formen das Recht die verschiedenen politischen
Lebensbedürfnisse zu befriedigen verstanden hat. Nicht die volle Einverleibung
ist der einzige Weg. Der vorzeitige Versuch dazu kann, wie die neuere Ent¬
wicklung Rußlands zeigt, geradezu verhängnisvoll wirken. Auch mit Elsaß-
Lothringen hätten wir 1871 mindestens einige Jahrzehnte warten sollen.

Nimmermehr kann aber die Unmöglichkeit einer sofortigen vollständigen
Einverleibung und die Befürchtung, die nationale Geschlossenheit zu stören,
einen Staat zum Verzichte auf Gebietserwerb bestimmen, der für ihn aus
militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen eine bittere Notwendigkeit
ist. Man beschwört wohl Bismarcks Geist herauf mit dem Schlagworte vom
"saturierten Staate". Bismarck hatte gut reden. Er hatte den preußischen
Staat um drei Provinzen auf einmal -- ein Gebiet wie nie zuvor --, das Reich
um Elsaß-Lothringen erweitert. Danach konnten beide vorläufig "saturiert"
sein, um erst einmal das Genossene zu verdauen. Aber jeder Organismus,
der fortgesetzt an dem Troste zehrt, einmal satt gewesen zu sein, muß schließlich
zusammenschrumpfen. Wie mannigfach die Formen des Wachstums eines
staatlichen Organismus sein können, das lehrt uns die geschichtliche Entwicklung
aller Zeiten.




Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete

Wie sie aber noch heute der Schutz Rußlands sind, hat gerade der Krieg
gezeigt.

Auch Bismarck wollte 1866 die neuen Provinzen nicht einfach Preußen
einverleiben, sondern unter Aufrechterhaltung ihrer Verfassung sollte der König
von Preußen gleichzeitig König von Hannover, Kurfürst von Hessen, Herzog
von Schleswig-Holstein und von Nassau und Herr von Frankfurt werden.
Damit wäre der Übergang schonend vorbereitet worden. Erst das Abgeordenten-
haus machte einen Strich durch diese Pläne unter dem Schlagworte: Nicht
Personalunion, sondern Realunion, d. h. Einverleibung.

Überaus mannigfach sind die Bilder, die wir in kurzen Umrissen an
unseren Augen haben vorüberziehen sehen. Das sollten sie auch sein. Denn
sie zeigen, in wie vielfachen Formen das Recht die verschiedenen politischen
Lebensbedürfnisse zu befriedigen verstanden hat. Nicht die volle Einverleibung
ist der einzige Weg. Der vorzeitige Versuch dazu kann, wie die neuere Ent¬
wicklung Rußlands zeigt, geradezu verhängnisvoll wirken. Auch mit Elsaß-
Lothringen hätten wir 1871 mindestens einige Jahrzehnte warten sollen.

Nimmermehr kann aber die Unmöglichkeit einer sofortigen vollständigen
Einverleibung und die Befürchtung, die nationale Geschlossenheit zu stören,
einen Staat zum Verzichte auf Gebietserwerb bestimmen, der für ihn aus
militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen eine bittere Notwendigkeit
ist. Man beschwört wohl Bismarcks Geist herauf mit dem Schlagworte vom
„saturierten Staate". Bismarck hatte gut reden. Er hatte den preußischen
Staat um drei Provinzen auf einmal — ein Gebiet wie nie zuvor —, das Reich
um Elsaß-Lothringen erweitert. Danach konnten beide vorläufig „saturiert"
sein, um erst einmal das Genossene zu verdauen. Aber jeder Organismus,
der fortgesetzt an dem Troste zehrt, einmal satt gewesen zu sein, muß schließlich
zusammenschrumpfen. Wie mannigfach die Formen des Wachstums eines
staatlichen Organismus sein können, das lehrt uns die geschichtliche Entwicklung
aller Zeiten.




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[0122] Die Formen der Angliederung unselbständiger Gebiete Wie sie aber noch heute der Schutz Rußlands sind, hat gerade der Krieg gezeigt. Auch Bismarck wollte 1866 die neuen Provinzen nicht einfach Preußen einverleiben, sondern unter Aufrechterhaltung ihrer Verfassung sollte der König von Preußen gleichzeitig König von Hannover, Kurfürst von Hessen, Herzog von Schleswig-Holstein und von Nassau und Herr von Frankfurt werden. Damit wäre der Übergang schonend vorbereitet worden. Erst das Abgeordenten- haus machte einen Strich durch diese Pläne unter dem Schlagworte: Nicht Personalunion, sondern Realunion, d. h. Einverleibung. Überaus mannigfach sind die Bilder, die wir in kurzen Umrissen an unseren Augen haben vorüberziehen sehen. Das sollten sie auch sein. Denn sie zeigen, in wie vielfachen Formen das Recht die verschiedenen politischen Lebensbedürfnisse zu befriedigen verstanden hat. Nicht die volle Einverleibung ist der einzige Weg. Der vorzeitige Versuch dazu kann, wie die neuere Ent¬ wicklung Rußlands zeigt, geradezu verhängnisvoll wirken. Auch mit Elsaß- Lothringen hätten wir 1871 mindestens einige Jahrzehnte warten sollen. Nimmermehr kann aber die Unmöglichkeit einer sofortigen vollständigen Einverleibung und die Befürchtung, die nationale Geschlossenheit zu stören, einen Staat zum Verzichte auf Gebietserwerb bestimmen, der für ihn aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen eine bittere Notwendigkeit ist. Man beschwört wohl Bismarcks Geist herauf mit dem Schlagworte vom „saturierten Staate". Bismarck hatte gut reden. Er hatte den preußischen Staat um drei Provinzen auf einmal — ein Gebiet wie nie zuvor —, das Reich um Elsaß-Lothringen erweitert. Danach konnten beide vorläufig „saturiert" sein, um erst einmal das Genossene zu verdauen. Aber jeder Organismus, der fortgesetzt an dem Troste zehrt, einmal satt gewesen zu sein, muß schließlich zusammenschrumpfen. Wie mannigfach die Formen des Wachstums eines staatlichen Organismus sein können, das lehrt uns die geschichtliche Entwicklung aller Zeiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/122>, abgerufen am 17.06.2024.