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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Das Werden des Orients
Dr. Leon Snleiman von

eit längerer Zeit beschäftigt die Frage: Wird der Orientale
"Europäer" werden? manchen führenden Kopf im Orient. An¬
gesichts der Isolierung der islamischen Türkei dem christlichen
Europa gegenüber während der vergangenen Jahrhunderte und
der vielen Kriege, die auf türkischem Boden ausgetragen wurden,
deren Endergebnis eine unaufhaltsame Verdrängung der Türkei vom europäischen
Kontinent war, mußte jene Frage in den Vordergrund treten. Man empfand
Europa in weiten Kreisen der Türkei als eine von Zivilisation, Kultur, Kunst
und Wissenschaft durchtränkte Einheit dem verlotterten Wirtschafts- und Staats¬
leben der alten Türkei gegenüber, und um den anderen Nationen politisch
gleichberechtigt zur Seite treten zu können, sah man das Heil in einer möglichst
weitgehenden wirtschaftlichen und kulturellen Annäherung an Europa, ja in
einer Verschmelzung mit den Völkern, die man "die europäische Kulturgemein¬
schaft" zu nennen pflegte. Diese Ansicht, die noch jetzt einen großen Teil der
führenden Männer beherrscht, schien früher noch dadurch gerechtfertigt zu werden,
daß der Beginn eines jeden Krieges gegen die Türkei mit wirtschaftlichen und
kulturell-sozialen Mängeln begründet wurde, deren Abhilfe die anderen Mächte
von der Türkei kategorisch forderten. Diesen Anlaß zu allen Kriegen schien man
nun durch Europäisierung des Volkes beseitigen zu können, um dann einer fried¬
lichen Entwicklung entgegen zu gehen. Man vergaß aber, daß diese von den
Mächten verlangten wirtschaftlichen und sozialen Reformen nur den Anlaß zu
den Amputationen gaben, die Europa während des neunzehnten Jahrhunderts
so sehr in Anspruch genommen haben. Hinter jenen Anlässen steckten Ursachen
ganz anderer Art: Wünsche, deren Erfüllung man nicht auf dem Wege der
"Europäisierung" erreichen konnte. Der Seeweg über Konstantinopel und
der Landweg über Bagdad waren für Nutzland und England gewiß weit
stärkere Bedürfnisse als jene stets an die Spitze der Politik gestellten Reform¬
bestrebungen. --

Es ist kein Zweifel, daß die Teilnahme an der europäischen Kultur eine der
Vorbedingungen für eine zukünftige kraftvolle wirtschaftliche und politische Ent¬
faltung des Osmanenreiches ist. Es gibt jetzt keinen vernünftigen Menschen
an leitender Stelle in der Türkei, der nicht von dieser Binsenwahrheit
wirklich überzeugt ist. Die sogenannte "nationale Partei" warnt aber davor,
so in den Apfel der Weisheit zu beißen, daß der sichere Tod die Folge wäre.




Das Werden des Orients
Dr. Leon Snleiman von

eit längerer Zeit beschäftigt die Frage: Wird der Orientale
„Europäer" werden? manchen führenden Kopf im Orient. An¬
gesichts der Isolierung der islamischen Türkei dem christlichen
Europa gegenüber während der vergangenen Jahrhunderte und
der vielen Kriege, die auf türkischem Boden ausgetragen wurden,
deren Endergebnis eine unaufhaltsame Verdrängung der Türkei vom europäischen
Kontinent war, mußte jene Frage in den Vordergrund treten. Man empfand
Europa in weiten Kreisen der Türkei als eine von Zivilisation, Kultur, Kunst
und Wissenschaft durchtränkte Einheit dem verlotterten Wirtschafts- und Staats¬
leben der alten Türkei gegenüber, und um den anderen Nationen politisch
gleichberechtigt zur Seite treten zu können, sah man das Heil in einer möglichst
weitgehenden wirtschaftlichen und kulturellen Annäherung an Europa, ja in
einer Verschmelzung mit den Völkern, die man „die europäische Kulturgemein¬
schaft" zu nennen pflegte. Diese Ansicht, die noch jetzt einen großen Teil der
führenden Männer beherrscht, schien früher noch dadurch gerechtfertigt zu werden,
daß der Beginn eines jeden Krieges gegen die Türkei mit wirtschaftlichen und
kulturell-sozialen Mängeln begründet wurde, deren Abhilfe die anderen Mächte
von der Türkei kategorisch forderten. Diesen Anlaß zu allen Kriegen schien man
nun durch Europäisierung des Volkes beseitigen zu können, um dann einer fried¬
lichen Entwicklung entgegen zu gehen. Man vergaß aber, daß diese von den
Mächten verlangten wirtschaftlichen und sozialen Reformen nur den Anlaß zu
den Amputationen gaben, die Europa während des neunzehnten Jahrhunderts
so sehr in Anspruch genommen haben. Hinter jenen Anlässen steckten Ursachen
ganz anderer Art: Wünsche, deren Erfüllung man nicht auf dem Wege der
„Europäisierung" erreichen konnte. Der Seeweg über Konstantinopel und
der Landweg über Bagdad waren für Nutzland und England gewiß weit
stärkere Bedürfnisse als jene stets an die Spitze der Politik gestellten Reform¬
bestrebungen. —

Es ist kein Zweifel, daß die Teilnahme an der europäischen Kultur eine der
Vorbedingungen für eine zukünftige kraftvolle wirtschaftliche und politische Ent¬
faltung des Osmanenreiches ist. Es gibt jetzt keinen vernünftigen Menschen
an leitender Stelle in der Türkei, der nicht von dieser Binsenwahrheit
wirklich überzeugt ist. Die sogenannte „nationale Partei" warnt aber davor,
so in den Apfel der Weisheit zu beißen, daß der sichere Tod die Folge wäre.


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[0220] [Abbildung] Das Werden des Orients Dr. Leon Snleiman von eit längerer Zeit beschäftigt die Frage: Wird der Orientale „Europäer" werden? manchen führenden Kopf im Orient. An¬ gesichts der Isolierung der islamischen Türkei dem christlichen Europa gegenüber während der vergangenen Jahrhunderte und der vielen Kriege, die auf türkischem Boden ausgetragen wurden, deren Endergebnis eine unaufhaltsame Verdrängung der Türkei vom europäischen Kontinent war, mußte jene Frage in den Vordergrund treten. Man empfand Europa in weiten Kreisen der Türkei als eine von Zivilisation, Kultur, Kunst und Wissenschaft durchtränkte Einheit dem verlotterten Wirtschafts- und Staats¬ leben der alten Türkei gegenüber, und um den anderen Nationen politisch gleichberechtigt zur Seite treten zu können, sah man das Heil in einer möglichst weitgehenden wirtschaftlichen und kulturellen Annäherung an Europa, ja in einer Verschmelzung mit den Völkern, die man „die europäische Kulturgemein¬ schaft" zu nennen pflegte. Diese Ansicht, die noch jetzt einen großen Teil der führenden Männer beherrscht, schien früher noch dadurch gerechtfertigt zu werden, daß der Beginn eines jeden Krieges gegen die Türkei mit wirtschaftlichen und kulturell-sozialen Mängeln begründet wurde, deren Abhilfe die anderen Mächte von der Türkei kategorisch forderten. Diesen Anlaß zu allen Kriegen schien man nun durch Europäisierung des Volkes beseitigen zu können, um dann einer fried¬ lichen Entwicklung entgegen zu gehen. Man vergaß aber, daß diese von den Mächten verlangten wirtschaftlichen und sozialen Reformen nur den Anlaß zu den Amputationen gaben, die Europa während des neunzehnten Jahrhunderts so sehr in Anspruch genommen haben. Hinter jenen Anlässen steckten Ursachen ganz anderer Art: Wünsche, deren Erfüllung man nicht auf dem Wege der „Europäisierung" erreichen konnte. Der Seeweg über Konstantinopel und der Landweg über Bagdad waren für Nutzland und England gewiß weit stärkere Bedürfnisse als jene stets an die Spitze der Politik gestellten Reform¬ bestrebungen. — Es ist kein Zweifel, daß die Teilnahme an der europäischen Kultur eine der Vorbedingungen für eine zukünftige kraftvolle wirtschaftliche und politische Ent¬ faltung des Osmanenreiches ist. Es gibt jetzt keinen vernünftigen Menschen an leitender Stelle in der Türkei, der nicht von dieser Binsenwahrheit wirklich überzeugt ist. Die sogenannte „nationale Partei" warnt aber davor, so in den Apfel der Weisheit zu beißen, daß der sichere Tod die Folge wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/220>, abgerufen am 17.06.2024.