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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Das Werden des Orients

Assimilation kann unmöglich fortschrittliche Entwicklung bedeuten, die Verleug¬
nung seiner Eigenart und das Aufgehen in anderen Völkern kann nicht das
Ideal eines Volkes sein. Gerade der Ausbau der Eigenart des Landes und Volkes,
seiner Kultur und Wirtschaft ist die Grundbedingung dafür, daß die Türkei in
ein wirtschaftliches und kulturelles Austauschverhältnis mit Europa treten kann.

Lediglich zur Entfaltung seiner selbst ist es für die Türkei unumgänglich
nötig, dasjenige für sich zu verwerten, was Europa in einem jahrhundertelangen
Streben, Sinnen und Trachten im Dienst der allgemeinen Entwicklung der
Nationen geschaffen hat. Trotz seines hohen Alters ist der nahe Osten ein
"neues Land", das erstaunlich reich an natürlichen und unerforschten Hilfs¬
quellen ist. Im Wirtschaftsleben fühlt man es überall, daß man die Schätze,
die der eigene Boden birgt, unmöglich ohne Zuhilfenahme der Errungenschaften
der modernen Technik, die gerade auf dem Gebiete der Rohstoffgewinnung in
Europa einen Triumph nach dem anderen feiert, wird heben können. Nur
die Kräfte, die das Hirn des Menschen und sein physischer Fleiß hervorgebracht
haben, können jene in der Natur und im Boden schlummernden Kräfte in
Bewegung setzen. Wer weiß jetzt nicht, wieviel Eisenbahn- und Bewässerungs¬
bauten die Türkei fremder Initiative und fremden Machtmitteln verdankt, deren
Ausgestaltung nicht einmal die Macht des Krieges zu hemmen vermochte.
Hunderte von Eisenbahn- und Straßenkilometern werden mit vereinter türkisch¬
deutscher Kraft auch während des Krieges durch das Land gezogen. Jetzt
strategischen Zwecken dienend, werden sie doch bald dem friedlichen Erwerbs¬
leben übergeben werden und jene Umwandlung tatkräftig unterstützen, die man
auf allen Gebieten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sich vollziehen sieht.
Es ist falsch, zu glauben, daß nur auf militärischem Gebiete eine Verjüngung
eingetreten ist. Die Türkei befindet sich auch mitten im furchtbarsten blutigen
Ringen in einem gewaltigen Erneuerungsprozeß, in keinem künstlich erzeugten
Prozeß, sondern in einer Zeit natürlicher Wiedergeburt, in der mau die not¬
wendigen tiefeinschneidender Einflüsse des Westens auf allen Gebieten deutlich
erkennt. Alte Häuser werden in allen größeren Städten niedergerissen, um
gesündere und schönere Straßen zu schaffen. Allerlei öffentliche städtische Anlagen
werden geplant und zum Teil ausgeführt. Probleme der Erziehung und Bildung
tauchen auf. In den Zeitungen und Zeitschriften werden die Gründe des geistigen
Tiefstandes erörtert und Pläne für die Fortentwicklung der nationalen Kraft,
für die Bevölkerungsvermehrung, die Verhütung der Kindersterblichkeit usw.
entworfen. Die öffentliche Meinung hat in der Türkei im Hinblick auf die
große Zahl der Analphabeten einen unglaublichen Aufschwung genommen und
den konstitutionellen Einrichtungen wird überall das größte Verständnis ent¬
gegengebracht.

Dieser Drang nach vorwärts wird nicht mehr aufzuhalten sein. Trotz
aller Verwicklungen äußerer und innerer Natur wird er mit aller Macht, von
politischen Zufälligkeiten unabhängig, weiter wirken.


Grenzboten III 1916 14
Das Werden des Orients

Assimilation kann unmöglich fortschrittliche Entwicklung bedeuten, die Verleug¬
nung seiner Eigenart und das Aufgehen in anderen Völkern kann nicht das
Ideal eines Volkes sein. Gerade der Ausbau der Eigenart des Landes und Volkes,
seiner Kultur und Wirtschaft ist die Grundbedingung dafür, daß die Türkei in
ein wirtschaftliches und kulturelles Austauschverhältnis mit Europa treten kann.

Lediglich zur Entfaltung seiner selbst ist es für die Türkei unumgänglich
nötig, dasjenige für sich zu verwerten, was Europa in einem jahrhundertelangen
Streben, Sinnen und Trachten im Dienst der allgemeinen Entwicklung der
Nationen geschaffen hat. Trotz seines hohen Alters ist der nahe Osten ein
„neues Land", das erstaunlich reich an natürlichen und unerforschten Hilfs¬
quellen ist. Im Wirtschaftsleben fühlt man es überall, daß man die Schätze,
die der eigene Boden birgt, unmöglich ohne Zuhilfenahme der Errungenschaften
der modernen Technik, die gerade auf dem Gebiete der Rohstoffgewinnung in
Europa einen Triumph nach dem anderen feiert, wird heben können. Nur
die Kräfte, die das Hirn des Menschen und sein physischer Fleiß hervorgebracht
haben, können jene in der Natur und im Boden schlummernden Kräfte in
Bewegung setzen. Wer weiß jetzt nicht, wieviel Eisenbahn- und Bewässerungs¬
bauten die Türkei fremder Initiative und fremden Machtmitteln verdankt, deren
Ausgestaltung nicht einmal die Macht des Krieges zu hemmen vermochte.
Hunderte von Eisenbahn- und Straßenkilometern werden mit vereinter türkisch¬
deutscher Kraft auch während des Krieges durch das Land gezogen. Jetzt
strategischen Zwecken dienend, werden sie doch bald dem friedlichen Erwerbs¬
leben übergeben werden und jene Umwandlung tatkräftig unterstützen, die man
auf allen Gebieten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sich vollziehen sieht.
Es ist falsch, zu glauben, daß nur auf militärischem Gebiete eine Verjüngung
eingetreten ist. Die Türkei befindet sich auch mitten im furchtbarsten blutigen
Ringen in einem gewaltigen Erneuerungsprozeß, in keinem künstlich erzeugten
Prozeß, sondern in einer Zeit natürlicher Wiedergeburt, in der mau die not¬
wendigen tiefeinschneidender Einflüsse des Westens auf allen Gebieten deutlich
erkennt. Alte Häuser werden in allen größeren Städten niedergerissen, um
gesündere und schönere Straßen zu schaffen. Allerlei öffentliche städtische Anlagen
werden geplant und zum Teil ausgeführt. Probleme der Erziehung und Bildung
tauchen auf. In den Zeitungen und Zeitschriften werden die Gründe des geistigen
Tiefstandes erörtert und Pläne für die Fortentwicklung der nationalen Kraft,
für die Bevölkerungsvermehrung, die Verhütung der Kindersterblichkeit usw.
entworfen. Die öffentliche Meinung hat in der Türkei im Hinblick auf die
große Zahl der Analphabeten einen unglaublichen Aufschwung genommen und
den konstitutionellen Einrichtungen wird überall das größte Verständnis ent¬
gegengebracht.

Dieser Drang nach vorwärts wird nicht mehr aufzuhalten sein. Trotz
aller Verwicklungen äußerer und innerer Natur wird er mit aller Macht, von
politischen Zufälligkeiten unabhängig, weiter wirken.


Grenzboten III 1916 14
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[0221] Das Werden des Orients Assimilation kann unmöglich fortschrittliche Entwicklung bedeuten, die Verleug¬ nung seiner Eigenart und das Aufgehen in anderen Völkern kann nicht das Ideal eines Volkes sein. Gerade der Ausbau der Eigenart des Landes und Volkes, seiner Kultur und Wirtschaft ist die Grundbedingung dafür, daß die Türkei in ein wirtschaftliches und kulturelles Austauschverhältnis mit Europa treten kann. Lediglich zur Entfaltung seiner selbst ist es für die Türkei unumgänglich nötig, dasjenige für sich zu verwerten, was Europa in einem jahrhundertelangen Streben, Sinnen und Trachten im Dienst der allgemeinen Entwicklung der Nationen geschaffen hat. Trotz seines hohen Alters ist der nahe Osten ein „neues Land", das erstaunlich reich an natürlichen und unerforschten Hilfs¬ quellen ist. Im Wirtschaftsleben fühlt man es überall, daß man die Schätze, die der eigene Boden birgt, unmöglich ohne Zuhilfenahme der Errungenschaften der modernen Technik, die gerade auf dem Gebiete der Rohstoffgewinnung in Europa einen Triumph nach dem anderen feiert, wird heben können. Nur die Kräfte, die das Hirn des Menschen und sein physischer Fleiß hervorgebracht haben, können jene in der Natur und im Boden schlummernden Kräfte in Bewegung setzen. Wer weiß jetzt nicht, wieviel Eisenbahn- und Bewässerungs¬ bauten die Türkei fremder Initiative und fremden Machtmitteln verdankt, deren Ausgestaltung nicht einmal die Macht des Krieges zu hemmen vermochte. Hunderte von Eisenbahn- und Straßenkilometern werden mit vereinter türkisch¬ deutscher Kraft auch während des Krieges durch das Land gezogen. Jetzt strategischen Zwecken dienend, werden sie doch bald dem friedlichen Erwerbs¬ leben übergeben werden und jene Umwandlung tatkräftig unterstützen, die man auf allen Gebieten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sich vollziehen sieht. Es ist falsch, zu glauben, daß nur auf militärischem Gebiete eine Verjüngung eingetreten ist. Die Türkei befindet sich auch mitten im furchtbarsten blutigen Ringen in einem gewaltigen Erneuerungsprozeß, in keinem künstlich erzeugten Prozeß, sondern in einer Zeit natürlicher Wiedergeburt, in der mau die not¬ wendigen tiefeinschneidender Einflüsse des Westens auf allen Gebieten deutlich erkennt. Alte Häuser werden in allen größeren Städten niedergerissen, um gesündere und schönere Straßen zu schaffen. Allerlei öffentliche städtische Anlagen werden geplant und zum Teil ausgeführt. Probleme der Erziehung und Bildung tauchen auf. In den Zeitungen und Zeitschriften werden die Gründe des geistigen Tiefstandes erörtert und Pläne für die Fortentwicklung der nationalen Kraft, für die Bevölkerungsvermehrung, die Verhütung der Kindersterblichkeit usw. entworfen. Die öffentliche Meinung hat in der Türkei im Hinblick auf die große Zahl der Analphabeten einen unglaublichen Aufschwung genommen und den konstitutionellen Einrichtungen wird überall das größte Verständnis ent¬ gegengebracht. Dieser Drang nach vorwärts wird nicht mehr aufzuhalten sein. Trotz aller Verwicklungen äußerer und innerer Natur wird er mit aller Macht, von politischen Zufälligkeiten unabhängig, weiter wirken. Grenzboten III 1916 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/221>, abgerufen am 17.06.2024.