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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Persönlichkeit als Idee der Geschichte und des Weltkrieges

Wirtschaftsbedingungen groß zu werden, alle ihre Eigentümlichkeiten auszubauen
In ihrem Rahmen und in ihrer Eigenart muß sie leistungsfähig werden. Daß
im Eifer des Wiederaufbaues über das Matz der nationalen Ziele und Zwecke
hinausgegriffen werden wird, ist wohl psychologisch zu verstehen, doch hat man
allen Grund anzunehmen, daß die praktische Wirklichkeit solche Bestrebungen
sehr bald in den Umkreis des wahrhaft Nützlichen und praktisch Ausführbaren
zurückführen wird. Das heißt aber: der Orient kann und wird europäisiert
werden, ohne jemals Europa zu werden.




Persönlichkeit als Idee der Geschichte
und des Weltkrieges
Dr. Karl Buchheim von

urch den Weltkrieg hat die deutsche idealistische Philosophie in
der Literatur eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Insbesondere
hat Fichte neue Verkündiger gefunden. Eine Schrift von Ottmar
Dietrich "Neue Reden an die deutsche Nation" (Leipzig, Quelle
u. Meyer, Preis 2 Mary will schon im Titel andeuten, daß der
Verfasser gern der Fichte unserer Zeit sein möchte. Ob mit Glück, mag der
Erfolg lehren. An philosophischer Tiefe und radikalen Ernst kommt das Buch
den alten "Reden" nicht gleich. Dafür liest es sich leicht, viel leichter als
Fichte, der sich zum Schaden seiner propagandistischen Wirksamkeit auf populäre
Sprache nicht gut verstand. Im übrigen geht Dietrich weniger auf Fichtes
als vielmehr auf Hegels Spuren; er beruft sich auch an entscheidender
Stelle (S. 36) auf Hegel. Denn folgendermaßen ist seine Geschichtsphilosophie:
Die Urzeit des deutschen Volkes wird beherrscht von der Idee des In¬
dividualismus. Stämme, Völkerschaften, Einzelne stehen sich chaotisch gegenüber
im Kampf aller gegen alle. Dagegen erhebt sich im fränkischen und deutschen
Reich, im römischen Kaisertum und Papsttum die Idee des Universalismus
und sucht alle Individualitäten zu unterdrücken. Diese wehren sich dagegen,
und schon droht gegen Ausgang des Mittelalters alles wieder in ein indivi¬
dualistisches Chaos zu versinken: da erhebt sich als Synthese die Idee des
Personalismus. Mit einer "List" wird sie in den individualistischen Be¬
strebungen selber wirksam. Diese werden ihnen selbst unbewußt höheren Zwecken
untergeordnet. Dabei dauern die Individualitäten an sich selbständig fort.
Denn der Grundsatz des Personalismus lautet: "Alle für einen und einer für
alle, und doch jeder ganz er selbst."


Persönlichkeit als Idee der Geschichte und des Weltkrieges

Wirtschaftsbedingungen groß zu werden, alle ihre Eigentümlichkeiten auszubauen
In ihrem Rahmen und in ihrer Eigenart muß sie leistungsfähig werden. Daß
im Eifer des Wiederaufbaues über das Matz der nationalen Ziele und Zwecke
hinausgegriffen werden wird, ist wohl psychologisch zu verstehen, doch hat man
allen Grund anzunehmen, daß die praktische Wirklichkeit solche Bestrebungen
sehr bald in den Umkreis des wahrhaft Nützlichen und praktisch Ausführbaren
zurückführen wird. Das heißt aber: der Orient kann und wird europäisiert
werden, ohne jemals Europa zu werden.




Persönlichkeit als Idee der Geschichte
und des Weltkrieges
Dr. Karl Buchheim von

urch den Weltkrieg hat die deutsche idealistische Philosophie in
der Literatur eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Insbesondere
hat Fichte neue Verkündiger gefunden. Eine Schrift von Ottmar
Dietrich „Neue Reden an die deutsche Nation" (Leipzig, Quelle
u. Meyer, Preis 2 Mary will schon im Titel andeuten, daß der
Verfasser gern der Fichte unserer Zeit sein möchte. Ob mit Glück, mag der
Erfolg lehren. An philosophischer Tiefe und radikalen Ernst kommt das Buch
den alten „Reden" nicht gleich. Dafür liest es sich leicht, viel leichter als
Fichte, der sich zum Schaden seiner propagandistischen Wirksamkeit auf populäre
Sprache nicht gut verstand. Im übrigen geht Dietrich weniger auf Fichtes
als vielmehr auf Hegels Spuren; er beruft sich auch an entscheidender
Stelle (S. 36) auf Hegel. Denn folgendermaßen ist seine Geschichtsphilosophie:
Die Urzeit des deutschen Volkes wird beherrscht von der Idee des In¬
dividualismus. Stämme, Völkerschaften, Einzelne stehen sich chaotisch gegenüber
im Kampf aller gegen alle. Dagegen erhebt sich im fränkischen und deutschen
Reich, im römischen Kaisertum und Papsttum die Idee des Universalismus
und sucht alle Individualitäten zu unterdrücken. Diese wehren sich dagegen,
und schon droht gegen Ausgang des Mittelalters alles wieder in ein indivi¬
dualistisches Chaos zu versinken: da erhebt sich als Synthese die Idee des
Personalismus. Mit einer „List" wird sie in den individualistischen Be¬
strebungen selber wirksam. Diese werden ihnen selbst unbewußt höheren Zwecken
untergeordnet. Dabei dauern die Individualitäten an sich selbständig fort.
Denn der Grundsatz des Personalismus lautet: „Alle für einen und einer für
alle, und doch jeder ganz er selbst."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/224>, abgerufen am 17.06.2024.