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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Konservativismus und innerer Frieden

Es kann nicht weiter Wunder nehmen, daß Professor Wittschewsky die
Betätigung eines "zwingenden Machtwillens" in der Richtung gemeinsamer
nationaler Ziellinien nicht von Herrn von Bethmann Hollweg erwartet. Auch
mancher, der dem Kanzler sein volles Vertrauen schenkt, fragt sich, ob solcher
Machtwille in ihm verkörpert sei. Ich erinnere an Friedrich Meineckes neuliches
Wort: "Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und
großen Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst seiner
Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen Organisationen der Par¬
teien und Interessen ein Gegengewicht zu schaffen."*) Wie dem nun auch sei
-- der kommende Friede wird es ja weisen -- ist es wirklich wünschenswert,
ja ist es auch nur möglich, daß dem deutschen Volke ein staatlich einigendes
Programm aufgezwungen werde? Auf die Dauer ist es jedenfalls nicht
einmal dem gewaltigen Machtwillen eines Bismarck, der seines Gleichen so leicht
nicht finden kann und wird, gelungen, dem deutschen Volke ein gemeinsames
Programm aufzuoktroyieren, ganz im Gegenteil! Ja, man kann zweifelhaft
sein, ob Bismarck auch nur die äußere Einigung Deutschlands gelungen wäre,
wenn ihm nicht der deutsche Einheitsdrang so machtvoll zu Hilfe gekommen
wäre. So wird auch jetzt der Einheitswille des deutschen Volkes, der unter
dem ungeheuren Druck des Existenzkampfes sich wieder mit elementarer Gewalt
erneuert hat, das Beste tun müssen, um sich eine einheitlichere Richtung zu
erarbeiten. Mit Freude und Dank darf es begrüßt werden, wenn von höchster
Stelle eine Parole ausgegeben wird gleich jener der letzten preußischen Thron¬
rede: daß der Geist gegenseitigen Verstehens und Vertrauens auch im Frieden
fortwirken und in der gemeinsamen Arbeit des ganzes Volkes sich ausprägen
solle. Aber wahr machen und in Wirklichkeit umsetzen kann ein solches Wort
doch nur das Volk selbst. Und ich wenigstens lebe der freudigen und uner¬
schütterlichen Zuversicht, daß diesmal der Einheitswille und das organisatorische
Genie der deutschen Nation, dessen sie sich jetzt erst in vollem Umfange bewußt
geworden ist, durch alle Hindernisse der Parteiungen und Entzweiungen hin¬
durch einen Weg zu den höheren Formen der Einheit und der Gemeinschaft
bahnen werden. So "spricht nicht nur der Idealismus, der an den Sieg der
edleren Anlagen in den Mitmenschen über deren eigennützige Berechnung glaubt",
so darf auch die nüchterne Beobachtung sprechen. Sehen wir denn nicht überall,
wie sich im deutschen Volke die Kräfte des Zusammenschlusses und der freien
Organisation seelischen Lebens regen, wie sie die Fesseln der Parteien sprengen,
wie sie Personen und Gruppen zu gemeinsamer vaterländischer Arbeit zusammen¬
führen, die vordem einander kaum kannten? Hier die "Freie Vaterländische
Vereinigung", die "Deutsche Gesellschaft von 1914", die Jenaer "Gemeinnützige
Gesellschaft 1914", dort die "Konferenz evangelischer Arbeitsorganisationen",
oder das sich anbahnende Kartell der christlichen, Hirsch - Dunckerschen und



*) Die neue Rundschau, Juniheft 191".
Konservativismus und innerer Frieden

Es kann nicht weiter Wunder nehmen, daß Professor Wittschewsky die
Betätigung eines „zwingenden Machtwillens" in der Richtung gemeinsamer
nationaler Ziellinien nicht von Herrn von Bethmann Hollweg erwartet. Auch
mancher, der dem Kanzler sein volles Vertrauen schenkt, fragt sich, ob solcher
Machtwille in ihm verkörpert sei. Ich erinnere an Friedrich Meineckes neuliches
Wort: „Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und
großen Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst seiner
Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen Organisationen der Par¬
teien und Interessen ein Gegengewicht zu schaffen."*) Wie dem nun auch sei
— der kommende Friede wird es ja weisen — ist es wirklich wünschenswert,
ja ist es auch nur möglich, daß dem deutschen Volke ein staatlich einigendes
Programm aufgezwungen werde? Auf die Dauer ist es jedenfalls nicht
einmal dem gewaltigen Machtwillen eines Bismarck, der seines Gleichen so leicht
nicht finden kann und wird, gelungen, dem deutschen Volke ein gemeinsames
Programm aufzuoktroyieren, ganz im Gegenteil! Ja, man kann zweifelhaft
sein, ob Bismarck auch nur die äußere Einigung Deutschlands gelungen wäre,
wenn ihm nicht der deutsche Einheitsdrang so machtvoll zu Hilfe gekommen
wäre. So wird auch jetzt der Einheitswille des deutschen Volkes, der unter
dem ungeheuren Druck des Existenzkampfes sich wieder mit elementarer Gewalt
erneuert hat, das Beste tun müssen, um sich eine einheitlichere Richtung zu
erarbeiten. Mit Freude und Dank darf es begrüßt werden, wenn von höchster
Stelle eine Parole ausgegeben wird gleich jener der letzten preußischen Thron¬
rede: daß der Geist gegenseitigen Verstehens und Vertrauens auch im Frieden
fortwirken und in der gemeinsamen Arbeit des ganzes Volkes sich ausprägen
solle. Aber wahr machen und in Wirklichkeit umsetzen kann ein solches Wort
doch nur das Volk selbst. Und ich wenigstens lebe der freudigen und uner¬
schütterlichen Zuversicht, daß diesmal der Einheitswille und das organisatorische
Genie der deutschen Nation, dessen sie sich jetzt erst in vollem Umfange bewußt
geworden ist, durch alle Hindernisse der Parteiungen und Entzweiungen hin¬
durch einen Weg zu den höheren Formen der Einheit und der Gemeinschaft
bahnen werden. So „spricht nicht nur der Idealismus, der an den Sieg der
edleren Anlagen in den Mitmenschen über deren eigennützige Berechnung glaubt",
so darf auch die nüchterne Beobachtung sprechen. Sehen wir denn nicht überall,
wie sich im deutschen Volke die Kräfte des Zusammenschlusses und der freien
Organisation seelischen Lebens regen, wie sie die Fesseln der Parteien sprengen,
wie sie Personen und Gruppen zu gemeinsamer vaterländischer Arbeit zusammen¬
führen, die vordem einander kaum kannten? Hier die „Freie Vaterländische
Vereinigung", die „Deutsche Gesellschaft von 1914", die Jenaer „Gemeinnützige
Gesellschaft 1914", dort die „Konferenz evangelischer Arbeitsorganisationen",
oder das sich anbahnende Kartell der christlichen, Hirsch - Dunckerschen und



*) Die neue Rundschau, Juniheft 191«.
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[0244] Konservativismus und innerer Frieden Es kann nicht weiter Wunder nehmen, daß Professor Wittschewsky die Betätigung eines „zwingenden Machtwillens" in der Richtung gemeinsamer nationaler Ziellinien nicht von Herrn von Bethmann Hollweg erwartet. Auch mancher, der dem Kanzler sein volles Vertrauen schenkt, fragt sich, ob solcher Machtwille in ihm verkörpert sei. Ich erinnere an Friedrich Meineckes neuliches Wort: „Es fehlt ihm gewiß nicht an innerer Fühlung mit allen gesunden und großen Kräften der Nation, aber an dem Triebe, sie für den Dienst seiner Politik zu organisieren und damit den eigensüchtigen Organisationen der Par¬ teien und Interessen ein Gegengewicht zu schaffen."*) Wie dem nun auch sei — der kommende Friede wird es ja weisen — ist es wirklich wünschenswert, ja ist es auch nur möglich, daß dem deutschen Volke ein staatlich einigendes Programm aufgezwungen werde? Auf die Dauer ist es jedenfalls nicht einmal dem gewaltigen Machtwillen eines Bismarck, der seines Gleichen so leicht nicht finden kann und wird, gelungen, dem deutschen Volke ein gemeinsames Programm aufzuoktroyieren, ganz im Gegenteil! Ja, man kann zweifelhaft sein, ob Bismarck auch nur die äußere Einigung Deutschlands gelungen wäre, wenn ihm nicht der deutsche Einheitsdrang so machtvoll zu Hilfe gekommen wäre. So wird auch jetzt der Einheitswille des deutschen Volkes, der unter dem ungeheuren Druck des Existenzkampfes sich wieder mit elementarer Gewalt erneuert hat, das Beste tun müssen, um sich eine einheitlichere Richtung zu erarbeiten. Mit Freude und Dank darf es begrüßt werden, wenn von höchster Stelle eine Parole ausgegeben wird gleich jener der letzten preußischen Thron¬ rede: daß der Geist gegenseitigen Verstehens und Vertrauens auch im Frieden fortwirken und in der gemeinsamen Arbeit des ganzes Volkes sich ausprägen solle. Aber wahr machen und in Wirklichkeit umsetzen kann ein solches Wort doch nur das Volk selbst. Und ich wenigstens lebe der freudigen und uner¬ schütterlichen Zuversicht, daß diesmal der Einheitswille und das organisatorische Genie der deutschen Nation, dessen sie sich jetzt erst in vollem Umfange bewußt geworden ist, durch alle Hindernisse der Parteiungen und Entzweiungen hin¬ durch einen Weg zu den höheren Formen der Einheit und der Gemeinschaft bahnen werden. So „spricht nicht nur der Idealismus, der an den Sieg der edleren Anlagen in den Mitmenschen über deren eigennützige Berechnung glaubt", so darf auch die nüchterne Beobachtung sprechen. Sehen wir denn nicht überall, wie sich im deutschen Volke die Kräfte des Zusammenschlusses und der freien Organisation seelischen Lebens regen, wie sie die Fesseln der Parteien sprengen, wie sie Personen und Gruppen zu gemeinsamer vaterländischer Arbeit zusammen¬ führen, die vordem einander kaum kannten? Hier die „Freie Vaterländische Vereinigung", die „Deutsche Gesellschaft von 1914", die Jenaer „Gemeinnützige Gesellschaft 1914", dort die „Konferenz evangelischer Arbeitsorganisationen", oder das sich anbahnende Kartell der christlichen, Hirsch - Dunckerschen und *) Die neue Rundschau, Juniheft 191«.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/244>, abgerufen am 17.06.2024.