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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Gustav Freytag bei den Grenzboten

ihrer Persönlichkeit und in ihren Werken die Eigentümlichkeiten des hervor¬
tretenden Mittelstandes mit der gleichen typischen Treue wiederzuspiegeln. In
einer Zeit von prosaischer Größe, doch ohne genialen Zug, wo solide Mittel¬
mäßigkeit, kräftiges Selbstbewußtsein, doch auch starre und zuweilen philisterhafte
Gebundenheit den Grundton angaben, vertrat Freytag das deutsche Bürgertum
mit allen seinen Vorzügen und Schwächen.

Der Dichter und Historiker des Bürgertums lagen bei Freytag von Natur
ebenbürtig nebeneinander. Politiker wurde er erst unter dem Eindruck der
Revolution von 1848, jenes elementaren Ereignisses, das auch für ihn mehr
oder weniger ein "geistiges Verjüngungsbad" bedeutete. Ein Verlangen zu
aktiver politischer Betätigung lag ihm bis dahin fern. Auch 1848 hätte er
kaum zur politischen Praxis gegriffen, wenn nicht die schwere Katastrophe
Preußens, Friedrich Wilhelms des Vierten historisches Versagen, alle seine
sittlichen Kräfte zur Tat wachgerufen hätte. Nicht Neigung und innerer Beruf,
sondern ein tief eingewurzeltes Pflichtgefühl, die Überzeugung, "daß der Staat
Kraft und Leben jedes Einzelnen für sich fordere", ließen den Entschluß in ihn:
reifen. Daß er zum praktischen Politiker nicht passe, stand ihm von vornherein
fest, in der Publizistik fand er das ihm angemessene Tätigkeitsfeld. Am
1. Juli 1848 übernahm er zusammen mit Julian Schmidt Eigentum und
Redaktion der "Grenzboten".

Es war das Geburtsjahr der freien Presse, "die wundervolle Lehrzeit des
deutschen Journalismus" mit ihren weiten Aussichten, aber auch ihren Ver¬
suchungen, in die sich Freytag mit einem Schlage, fast wider seinen Willen,
versetzt sah. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Freytag in seiner neuen Rolle
zurechtfand, und nur natürlich, daß der Zug seines ganzen Wesens, der un¬
politischen Vergangenheit entsprechend, in der er wurzelte, sein Interesse nicht
so sehr auf das politisch-technische Detail richtete, als auf prinzipielle Fragen
des politischen Lebens, denen er gern den Mantel des lehrhaft-moralisierenden
Pathos umhing. Wie als Dichter und Historiker, so wollte er auch als Publizist
in erster Linie auf das Gemüt seines Volkes wirken, zur sittlichen und politischen
Bildung desselben beitragen. In dieser Form gab Freytag 22 Jahre lang in
den "Grenzboten" "mit der linken Hand", wie er zu sagen pflegte, dem
nationalen und liberalen Idealismus des mündig gewordenen Bürgertums
Ausdruck, vertrat er in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit, im Bunde mit
namhaften Mitarbeitern, nach eigenem Geständnis "die höchsten Interessen
seines Lebens", durchlebte er "die mannhaftesten Gefühle".

Freytags politischer Parteistandpunkt ergab sich mit Notwendigkeit aus
seiner Zugehörigkeit zu jener bürgerlichen Aristokratie des Vormärz, die sich
zuerst mit den naturrechtltchen Theorien Frankreichs verbündete, die noch
keinen vierten Stand neben sich kannte und sich wirklich als den Kern des
Volkes betrachten, ja mit der Nation selbst gleichsetzen durfte. Den Notabeln-
charakter dieses älteren Liberalismus hat Freytag zeitlebens nicht verleugnet,


Gustav Freytag bei den Grenzboten

ihrer Persönlichkeit und in ihren Werken die Eigentümlichkeiten des hervor¬
tretenden Mittelstandes mit der gleichen typischen Treue wiederzuspiegeln. In
einer Zeit von prosaischer Größe, doch ohne genialen Zug, wo solide Mittel¬
mäßigkeit, kräftiges Selbstbewußtsein, doch auch starre und zuweilen philisterhafte
Gebundenheit den Grundton angaben, vertrat Freytag das deutsche Bürgertum
mit allen seinen Vorzügen und Schwächen.

Der Dichter und Historiker des Bürgertums lagen bei Freytag von Natur
ebenbürtig nebeneinander. Politiker wurde er erst unter dem Eindruck der
Revolution von 1848, jenes elementaren Ereignisses, das auch für ihn mehr
oder weniger ein „geistiges Verjüngungsbad" bedeutete. Ein Verlangen zu
aktiver politischer Betätigung lag ihm bis dahin fern. Auch 1848 hätte er
kaum zur politischen Praxis gegriffen, wenn nicht die schwere Katastrophe
Preußens, Friedrich Wilhelms des Vierten historisches Versagen, alle seine
sittlichen Kräfte zur Tat wachgerufen hätte. Nicht Neigung und innerer Beruf,
sondern ein tief eingewurzeltes Pflichtgefühl, die Überzeugung, „daß der Staat
Kraft und Leben jedes Einzelnen für sich fordere", ließen den Entschluß in ihn:
reifen. Daß er zum praktischen Politiker nicht passe, stand ihm von vornherein
fest, in der Publizistik fand er das ihm angemessene Tätigkeitsfeld. Am
1. Juli 1848 übernahm er zusammen mit Julian Schmidt Eigentum und
Redaktion der „Grenzboten".

Es war das Geburtsjahr der freien Presse, „die wundervolle Lehrzeit des
deutschen Journalismus" mit ihren weiten Aussichten, aber auch ihren Ver¬
suchungen, in die sich Freytag mit einem Schlage, fast wider seinen Willen,
versetzt sah. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Freytag in seiner neuen Rolle
zurechtfand, und nur natürlich, daß der Zug seines ganzen Wesens, der un¬
politischen Vergangenheit entsprechend, in der er wurzelte, sein Interesse nicht
so sehr auf das politisch-technische Detail richtete, als auf prinzipielle Fragen
des politischen Lebens, denen er gern den Mantel des lehrhaft-moralisierenden
Pathos umhing. Wie als Dichter und Historiker, so wollte er auch als Publizist
in erster Linie auf das Gemüt seines Volkes wirken, zur sittlichen und politischen
Bildung desselben beitragen. In dieser Form gab Freytag 22 Jahre lang in
den „Grenzboten" „mit der linken Hand", wie er zu sagen pflegte, dem
nationalen und liberalen Idealismus des mündig gewordenen Bürgertums
Ausdruck, vertrat er in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit, im Bunde mit
namhaften Mitarbeitern, nach eigenem Geständnis „die höchsten Interessen
seines Lebens", durchlebte er „die mannhaftesten Gefühle".

Freytags politischer Parteistandpunkt ergab sich mit Notwendigkeit aus
seiner Zugehörigkeit zu jener bürgerlichen Aristokratie des Vormärz, die sich
zuerst mit den naturrechtltchen Theorien Frankreichs verbündete, die noch
keinen vierten Stand neben sich kannte und sich wirklich als den Kern des
Volkes betrachten, ja mit der Nation selbst gleichsetzen durfte. Den Notabeln-
charakter dieses älteren Liberalismus hat Freytag zeitlebens nicht verleugnet,


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[0046] Gustav Freytag bei den Grenzboten ihrer Persönlichkeit und in ihren Werken die Eigentümlichkeiten des hervor¬ tretenden Mittelstandes mit der gleichen typischen Treue wiederzuspiegeln. In einer Zeit von prosaischer Größe, doch ohne genialen Zug, wo solide Mittel¬ mäßigkeit, kräftiges Selbstbewußtsein, doch auch starre und zuweilen philisterhafte Gebundenheit den Grundton angaben, vertrat Freytag das deutsche Bürgertum mit allen seinen Vorzügen und Schwächen. Der Dichter und Historiker des Bürgertums lagen bei Freytag von Natur ebenbürtig nebeneinander. Politiker wurde er erst unter dem Eindruck der Revolution von 1848, jenes elementaren Ereignisses, das auch für ihn mehr oder weniger ein „geistiges Verjüngungsbad" bedeutete. Ein Verlangen zu aktiver politischer Betätigung lag ihm bis dahin fern. Auch 1848 hätte er kaum zur politischen Praxis gegriffen, wenn nicht die schwere Katastrophe Preußens, Friedrich Wilhelms des Vierten historisches Versagen, alle seine sittlichen Kräfte zur Tat wachgerufen hätte. Nicht Neigung und innerer Beruf, sondern ein tief eingewurzeltes Pflichtgefühl, die Überzeugung, „daß der Staat Kraft und Leben jedes Einzelnen für sich fordere", ließen den Entschluß in ihn: reifen. Daß er zum praktischen Politiker nicht passe, stand ihm von vornherein fest, in der Publizistik fand er das ihm angemessene Tätigkeitsfeld. Am 1. Juli 1848 übernahm er zusammen mit Julian Schmidt Eigentum und Redaktion der „Grenzboten". Es war das Geburtsjahr der freien Presse, „die wundervolle Lehrzeit des deutschen Journalismus" mit ihren weiten Aussichten, aber auch ihren Ver¬ suchungen, in die sich Freytag mit einem Schlage, fast wider seinen Willen, versetzt sah. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Freytag in seiner neuen Rolle zurechtfand, und nur natürlich, daß der Zug seines ganzen Wesens, der un¬ politischen Vergangenheit entsprechend, in der er wurzelte, sein Interesse nicht so sehr auf das politisch-technische Detail richtete, als auf prinzipielle Fragen des politischen Lebens, denen er gern den Mantel des lehrhaft-moralisierenden Pathos umhing. Wie als Dichter und Historiker, so wollte er auch als Publizist in erster Linie auf das Gemüt seines Volkes wirken, zur sittlichen und politischen Bildung desselben beitragen. In dieser Form gab Freytag 22 Jahre lang in den „Grenzboten" „mit der linken Hand", wie er zu sagen pflegte, dem nationalen und liberalen Idealismus des mündig gewordenen Bürgertums Ausdruck, vertrat er in unermüdlicher, entsagungsvoller Arbeit, im Bunde mit namhaften Mitarbeitern, nach eigenem Geständnis „die höchsten Interessen seines Lebens", durchlebte er „die mannhaftesten Gefühle". Freytags politischer Parteistandpunkt ergab sich mit Notwendigkeit aus seiner Zugehörigkeit zu jener bürgerlichen Aristokratie des Vormärz, die sich zuerst mit den naturrechtltchen Theorien Frankreichs verbündete, die noch keinen vierten Stand neben sich kannte und sich wirklich als den Kern des Volkes betrachten, ja mit der Nation selbst gleichsetzen durfte. Den Notabeln- charakter dieses älteren Liberalismus hat Freytag zeitlebens nicht verleugnet,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/46>, abgerufen am 19.05.2024.