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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Gustav Freytag bei den Grenzboten

in seiner Vorstellungswelt blieb er befangen, auch als dre veranderw: Zeiten
das Bürgertum aus seiner idyllischen Ruhe verscheucht hatten. Den fort-
schrittlichen Anschauungen dieser Kreise konnte sich Freytag "in?o wemger ver-
^Keßen. als sie in glücklicher Weise dem Grundzuge seiner gersttgen Wesensart,
wie sie sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatte, entsprach.

Freytags hochliberaler Standpunkt läßt sich nämlich erst ganz verstehen,
wenn man berücksichtigt, daß sein politisches Urteil sehr erheblich von literansch-
wissenschaftlichen Eindrücken bestimmt wurde. Freytag kam von der romanti¬
schen Germanistik her. Von Jakob Grimm übernahm er die geschichtsphilosophtsche
Idee der Volksseele, die Vorstellung von einer selbsttätig wirksamen Volkskraft.
Diese neue Auffassung des geschichtlichen Lebens sah in Sprache. Sitte. Recht,
Poesie der Völker gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes, in den
Völkern selbst große geistige Einheiten, deren Leben ebenso wie das des ein¬
zelnen gesetzvollen Verlauf hat. und suchte die Abhängigkeit der einzelnen von
der Volkskraft nachzuweisen. Eine derartige akademische Theorie, die durch
und durch demokratisch ist, wurde von Freytag auch auf die Politik an¬
gewandt. "Ja auch das politische Schicksal eines Volkes war nur die fort¬
laufende Kette von Lebensäußerungen eines großen Organismus. Auch hier
war das letzte eine treibende Lebenskraft, modifiziert durch die Weltlage und
die Individualität des Volkes, eingeengt und gesteigert durch Einwirkungen
anderer Völker. Nur was dieser nationalen Kraft Stärkung und Gedeihen
gab. war in der Politik gut." Den reinsten und.deutlichsten Ausdruck dieser
nationalen Kraft sah Freytag aber in der Gesellschaftsschicht, in der er selber
mit seinem Empfinden wurzelte, im gebildeten Bürgertum. So kam er auf
diesem gleichfalls idealistisch gekennzeichneten Seitenpfade zu einer verstärkten
Überzeugung von der Allmacht des Volkes d. h. in seinem Sinne der
Bourgeoisie, zu der ihn bereits die demokratische Hauptströmung des Zeit-
alters führen mußte.

Mit dem verletzten Feingefühl des vornehmen Bourgeois zog sich jedoch
Freytag sofort vor den radikalen Auswüchsen der naturrechtlichen Doktrin zu¬
rück, mit denen die modern demokratischen Ansprüche eines neuen vierten
Standes notwendig verbunden waren, eines Standes, den er als der An¬
hänger einer durchaus aristokratischen Gesellschaftsordnung seiner ganzen Her¬
kunft nach nicht verstehen konnte. Im Programm der neuen Redaktion vom
1. Juli 1848 hieß es dementsprechend: "Die Grenzboten werden den Regie¬
rungen gegenüber entschiedene Demokraten sein, gegen die Launen und den
Unverstand der Masse die Aristokratie der Bildung und des Rechts vertreten."
Freytags nüchternem Wirklichkeissinn und seinem in der Schule Dahlmanns
geübten historischen Urteil wurde es nicht schwer, die rohen, rein negierenden
Tendenzen des 1848er Radikalismus absuräum zu führen. Charakteristisch
ist in dieser Hinsicht vor allem, wie er von vornherein dem Frankfurter Par¬
lament, dieser höchsten Blüte eines einseitig gesteigerten Idealismus, skeptisch


Gustav Freytag bei den Grenzboten

in seiner Vorstellungswelt blieb er befangen, auch als dre veranderw: Zeiten
das Bürgertum aus seiner idyllischen Ruhe verscheucht hatten. Den fort-
schrittlichen Anschauungen dieser Kreise konnte sich Freytag »in?o wemger ver-
^Keßen. als sie in glücklicher Weise dem Grundzuge seiner gersttgen Wesensart,
wie sie sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatte, entsprach.

Freytags hochliberaler Standpunkt läßt sich nämlich erst ganz verstehen,
wenn man berücksichtigt, daß sein politisches Urteil sehr erheblich von literansch-
wissenschaftlichen Eindrücken bestimmt wurde. Freytag kam von der romanti¬
schen Germanistik her. Von Jakob Grimm übernahm er die geschichtsphilosophtsche
Idee der Volksseele, die Vorstellung von einer selbsttätig wirksamen Volkskraft.
Diese neue Auffassung des geschichtlichen Lebens sah in Sprache. Sitte. Recht,
Poesie der Völker gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes, in den
Völkern selbst große geistige Einheiten, deren Leben ebenso wie das des ein¬
zelnen gesetzvollen Verlauf hat. und suchte die Abhängigkeit der einzelnen von
der Volkskraft nachzuweisen. Eine derartige akademische Theorie, die durch
und durch demokratisch ist, wurde von Freytag auch auf die Politik an¬
gewandt. „Ja auch das politische Schicksal eines Volkes war nur die fort¬
laufende Kette von Lebensäußerungen eines großen Organismus. Auch hier
war das letzte eine treibende Lebenskraft, modifiziert durch die Weltlage und
die Individualität des Volkes, eingeengt und gesteigert durch Einwirkungen
anderer Völker. Nur was dieser nationalen Kraft Stärkung und Gedeihen
gab. war in der Politik gut." Den reinsten und.deutlichsten Ausdruck dieser
nationalen Kraft sah Freytag aber in der Gesellschaftsschicht, in der er selber
mit seinem Empfinden wurzelte, im gebildeten Bürgertum. So kam er auf
diesem gleichfalls idealistisch gekennzeichneten Seitenpfade zu einer verstärkten
Überzeugung von der Allmacht des Volkes d. h. in seinem Sinne der
Bourgeoisie, zu der ihn bereits die demokratische Hauptströmung des Zeit-
alters führen mußte.

Mit dem verletzten Feingefühl des vornehmen Bourgeois zog sich jedoch
Freytag sofort vor den radikalen Auswüchsen der naturrechtlichen Doktrin zu¬
rück, mit denen die modern demokratischen Ansprüche eines neuen vierten
Standes notwendig verbunden waren, eines Standes, den er als der An¬
hänger einer durchaus aristokratischen Gesellschaftsordnung seiner ganzen Her¬
kunft nach nicht verstehen konnte. Im Programm der neuen Redaktion vom
1. Juli 1848 hieß es dementsprechend: „Die Grenzboten werden den Regie¬
rungen gegenüber entschiedene Demokraten sein, gegen die Launen und den
Unverstand der Masse die Aristokratie der Bildung und des Rechts vertreten."
Freytags nüchternem Wirklichkeissinn und seinem in der Schule Dahlmanns
geübten historischen Urteil wurde es nicht schwer, die rohen, rein negierenden
Tendenzen des 1848er Radikalismus absuräum zu führen. Charakteristisch
ist in dieser Hinsicht vor allem, wie er von vornherein dem Frankfurter Par¬
lament, dieser höchsten Blüte eines einseitig gesteigerten Idealismus, skeptisch


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[0047] Gustav Freytag bei den Grenzboten in seiner Vorstellungswelt blieb er befangen, auch als dre veranderw: Zeiten das Bürgertum aus seiner idyllischen Ruhe verscheucht hatten. Den fort- schrittlichen Anschauungen dieser Kreise konnte sich Freytag »in?o wemger ver- ^Keßen. als sie in glücklicher Weise dem Grundzuge seiner gersttgen Wesensart, wie sie sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatte, entsprach. Freytags hochliberaler Standpunkt läßt sich nämlich erst ganz verstehen, wenn man berücksichtigt, daß sein politisches Urteil sehr erheblich von literansch- wissenschaftlichen Eindrücken bestimmt wurde. Freytag kam von der romanti¬ schen Germanistik her. Von Jakob Grimm übernahm er die geschichtsphilosophtsche Idee der Volksseele, die Vorstellung von einer selbsttätig wirksamen Volkskraft. Diese neue Auffassung des geschichtlichen Lebens sah in Sprache. Sitte. Recht, Poesie der Völker gesetzmäßige Lebensäußerungen des Volksgeistes, in den Völkern selbst große geistige Einheiten, deren Leben ebenso wie das des ein¬ zelnen gesetzvollen Verlauf hat. und suchte die Abhängigkeit der einzelnen von der Volkskraft nachzuweisen. Eine derartige akademische Theorie, die durch und durch demokratisch ist, wurde von Freytag auch auf die Politik an¬ gewandt. „Ja auch das politische Schicksal eines Volkes war nur die fort¬ laufende Kette von Lebensäußerungen eines großen Organismus. Auch hier war das letzte eine treibende Lebenskraft, modifiziert durch die Weltlage und die Individualität des Volkes, eingeengt und gesteigert durch Einwirkungen anderer Völker. Nur was dieser nationalen Kraft Stärkung und Gedeihen gab. war in der Politik gut." Den reinsten und.deutlichsten Ausdruck dieser nationalen Kraft sah Freytag aber in der Gesellschaftsschicht, in der er selber mit seinem Empfinden wurzelte, im gebildeten Bürgertum. So kam er auf diesem gleichfalls idealistisch gekennzeichneten Seitenpfade zu einer verstärkten Überzeugung von der Allmacht des Volkes d. h. in seinem Sinne der Bourgeoisie, zu der ihn bereits die demokratische Hauptströmung des Zeit- alters führen mußte. Mit dem verletzten Feingefühl des vornehmen Bourgeois zog sich jedoch Freytag sofort vor den radikalen Auswüchsen der naturrechtlichen Doktrin zu¬ rück, mit denen die modern demokratischen Ansprüche eines neuen vierten Standes notwendig verbunden waren, eines Standes, den er als der An¬ hänger einer durchaus aristokratischen Gesellschaftsordnung seiner ganzen Her¬ kunft nach nicht verstehen konnte. Im Programm der neuen Redaktion vom 1. Juli 1848 hieß es dementsprechend: „Die Grenzboten werden den Regie¬ rungen gegenüber entschiedene Demokraten sein, gegen die Launen und den Unverstand der Masse die Aristokratie der Bildung und des Rechts vertreten." Freytags nüchternem Wirklichkeissinn und seinem in der Schule Dahlmanns geübten historischen Urteil wurde es nicht schwer, die rohen, rein negierenden Tendenzen des 1848er Radikalismus absuräum zu führen. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht vor allem, wie er von vornherein dem Frankfurter Par¬ lament, dieser höchsten Blüte eines einseitig gesteigerten Idealismus, skeptisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/47>, abgerufen am 19.05.2024.