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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr.

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Gustav Freytag bei den Grenzboten

gegenüberstand. Volkssouveränität, allgemeines Staatsbürgertum und andere
klingende Phrasen der Demokratie wies er überlegen von der Hand. Vollends
die "seichte Gleichmacherei" des allgemeinen Wahlrechts hat er später "das
leichtsinnigste Experiment Bismarcks" genannt.

Die Schuld an jenen Einseitigkeiten der sozialistischen Theorie maß Freytag
der bis in seine Tage herrschenden isolierten Daseinsform bei, als wirksames
Heilmittel dagegen empfahl er den Segen einer rationellen Organisation des
Volkes in seinen großen und kleinen Verbindungen, in enger Anlehnung an den
Assoziationsgedanken von Schulze-Delitzsch, auf den er als den berufenen Fach¬
mann in den sozialen Angelegenheiten auch in späteren Jahren zu verweisen
pflegte. Freytag selbst konnte weder jetzt noch später ein tieferes Verhältnis
zu dem immer brennender werdenden Problem des vierten Standes gewinnen.
Wo er ihm begegnete, stand er ratlos; so ging er ihm lieber aus dem Wege
und drückte die Augen zu vor der "Eiterbeule der Gegenwart". Er, der
Idealist und Optimist der alten Schule, wollte sich "die Freudigkeit des
Herzens", den Glauben an sein Volk nicht nehmen lassen, deshalb überließ er
die Arbeit an der neuen Zeitaufgabe einer jüngeren Generation.

Um so nachdrücklicher vertrat er, wie es im Programm der "Grenzboten"
zum Ausdruck kam, die Interessen des Standes, dem er selbst angehörte und
dem er den seiner hohen wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung ent¬
sprechenden politischen Einfluß verschaffen wollte. Mit der gemütvollen Inner¬
lichkeit des liberalen Doktrinärs betonte er die Mündigkeit des Bürgertums und
ließ es sich angelegen sein, die prinzipiellen Fragen des konstitutionellen Pro¬
gramms dem konservativen Jdeenkreis in scharfer Absage entgegenzustellen.
Hierher gehörte vor allem sein Eintreten für die wichtigsten Grundrechte, ohne
daß er sich dabei wesentlich über die gangbaren Vorstellungen des Konstitu¬
tionalismus erhob. Die ihm eigene fortschrittliche Note kam erst völlig in
der Frage der Staatsform zum Vorschein. Auf den doktrinären Zuschuß, den
seine Anschauungen dabei durch eine spezifisch akademisch-wissenschaftliche
Orientierung erfuhren, wurde schon verwiesen. Er erklärt erst ganz die stritte
Betonung der bürgerlichen Vormachtstellung. Nicht zu verwundern ist, wenn
Freytag somit 1848 die Bürgerrepublick als ideale Staatsform aufstellte. Die
"Grenzboten" sprechen ganz im souveränen Tone jener Zeit, die die Prinzipien
und die Schlagworte liebte. Aber für Freytag war die Republik doch mehr
als eine Phrase. Sie blieb das unerreichte Ideal, wenn auch sein nüchterner
Blick rasch einsah, daß die Zeit dazu nicht reif sei. Das Königtum war und
blieb für ihn nicht mehr als ein notwendiges Übel. Er selbst sagte von sich:
"Die feurige Loyalität und Hingabe, welche auch hochbegabte Männer oft für
die Herrschaften fühlen, denen sie Kraft und Leben widmen, habe ich nach
meiner Natur den Höchsten der Erde gegenüber niemals gefühlt, und wenn
mir dergleichen etwa auf Augenblicke kam, habe ich dies als unwahr als¬
bald abgetan."


Gustav Freytag bei den Grenzboten

gegenüberstand. Volkssouveränität, allgemeines Staatsbürgertum und andere
klingende Phrasen der Demokratie wies er überlegen von der Hand. Vollends
die „seichte Gleichmacherei" des allgemeinen Wahlrechts hat er später „das
leichtsinnigste Experiment Bismarcks" genannt.

Die Schuld an jenen Einseitigkeiten der sozialistischen Theorie maß Freytag
der bis in seine Tage herrschenden isolierten Daseinsform bei, als wirksames
Heilmittel dagegen empfahl er den Segen einer rationellen Organisation des
Volkes in seinen großen und kleinen Verbindungen, in enger Anlehnung an den
Assoziationsgedanken von Schulze-Delitzsch, auf den er als den berufenen Fach¬
mann in den sozialen Angelegenheiten auch in späteren Jahren zu verweisen
pflegte. Freytag selbst konnte weder jetzt noch später ein tieferes Verhältnis
zu dem immer brennender werdenden Problem des vierten Standes gewinnen.
Wo er ihm begegnete, stand er ratlos; so ging er ihm lieber aus dem Wege
und drückte die Augen zu vor der „Eiterbeule der Gegenwart". Er, der
Idealist und Optimist der alten Schule, wollte sich „die Freudigkeit des
Herzens", den Glauben an sein Volk nicht nehmen lassen, deshalb überließ er
die Arbeit an der neuen Zeitaufgabe einer jüngeren Generation.

Um so nachdrücklicher vertrat er, wie es im Programm der „Grenzboten"
zum Ausdruck kam, die Interessen des Standes, dem er selbst angehörte und
dem er den seiner hohen wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung ent¬
sprechenden politischen Einfluß verschaffen wollte. Mit der gemütvollen Inner¬
lichkeit des liberalen Doktrinärs betonte er die Mündigkeit des Bürgertums und
ließ es sich angelegen sein, die prinzipiellen Fragen des konstitutionellen Pro¬
gramms dem konservativen Jdeenkreis in scharfer Absage entgegenzustellen.
Hierher gehörte vor allem sein Eintreten für die wichtigsten Grundrechte, ohne
daß er sich dabei wesentlich über die gangbaren Vorstellungen des Konstitu¬
tionalismus erhob. Die ihm eigene fortschrittliche Note kam erst völlig in
der Frage der Staatsform zum Vorschein. Auf den doktrinären Zuschuß, den
seine Anschauungen dabei durch eine spezifisch akademisch-wissenschaftliche
Orientierung erfuhren, wurde schon verwiesen. Er erklärt erst ganz die stritte
Betonung der bürgerlichen Vormachtstellung. Nicht zu verwundern ist, wenn
Freytag somit 1848 die Bürgerrepublick als ideale Staatsform aufstellte. Die
„Grenzboten" sprechen ganz im souveränen Tone jener Zeit, die die Prinzipien
und die Schlagworte liebte. Aber für Freytag war die Republik doch mehr
als eine Phrase. Sie blieb das unerreichte Ideal, wenn auch sein nüchterner
Blick rasch einsah, daß die Zeit dazu nicht reif sei. Das Königtum war und
blieb für ihn nicht mehr als ein notwendiges Übel. Er selbst sagte von sich:
„Die feurige Loyalität und Hingabe, welche auch hochbegabte Männer oft für
die Herrschaften fühlen, denen sie Kraft und Leben widmen, habe ich nach
meiner Natur den Höchsten der Erde gegenüber niemals gefühlt, und wenn
mir dergleichen etwa auf Augenblicke kam, habe ich dies als unwahr als¬
bald abgetan."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330533/48>, abgerufen am 18.05.2024.