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Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.

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Die Napoleoniden.

Der Fürst von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬
dem ihn schlechte Finanzen seine römischen Palläste zu
verkaufen zwangen. Er stand dem Genie seines Bru¬
ders am nächsten, obschon er ohne Napoleon vielleicht
nichts geworden wäre, als ein guter Börsenspekulant,
vielleicht ein kühner Parteigänger der Revolution, oder
ein mittelmäßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn
sein Bruder stellte, kam ihm zu Hülfe. Was er an
schroffer Energie besaß, verdeckte seine Leutseligkeit, und
was ihm daran fehlte, ersetzte die Kunst der Reprä¬
sentation, die ihm meisterhaft zu Gebote stand. Er
drängte sich gewandt durch die Parteien der Revolution,
und riß soviel Gewalt an sich, daß er die Hauptsache
am 18. Brümaire seinem Bruder übergeben konnte,
ohne in eine abhängige Stellung zu kommen. Seitdem
Napoleon seinem Bruder Etwas zu verdanken hatte,
hörte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬
deckte an Lucian einen starren Republikanismus, oder
wenigstens die Maske desselben, welche seine ehrgeizigen
Absichten verbarg. Diplomatische Verdienste, die sich
Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons
Haupt sammelten, vermehrten das Mißverständniß, so
daß Lucian endlich aus seiner Opposition ein Prinzip
machte. Die Kaiserkrone erschöpfte den eifersüchtigen

Gutzkow's öffentl. Char. 9
Die Napoleoniden.

Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬
dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu
verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬
ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht
nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant,
vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder
ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn
ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an
ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und
was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬
ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er
draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution,
und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache
am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte,
ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem
Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte,
hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬
deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder
wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen
Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich
Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons
Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo
daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip
machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen

Gutzkow's öffentl. Char. 9
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[129/0147] Die Napoleoniden. Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬ dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬ ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant, vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬ ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution, und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte, ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte, hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬ deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen Gutzkow's öffentl. Char. 9

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Ab Oktober 1834 ließ Karl Gutzkow seine als Serie… [mehr]

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/147>, abgerufen am 29.04.2024.