Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

sie das Urbild aller menschlichen Vollkommenheit, Glückseligkeit
und Stärke? Laß es seyn, daß jener in Bildern denke, was
er abstract zu denken noch nicht vermag; selbst wenn er noch
keinen entwickelten Gedanken d. i. kein Wort von Gott hätte
und er genöße Gott als den großen Geist der Schöpfung thä-
tig in seinem Leben; o so lebet er dankbar, indem er zufrieden
lebet und wenn er sich in Wortziffern keine unsterbliche Seele
erweisen kann und glaubt dieselbe: so geht er mit glücklicherm
Muth als mancher zweifelnde Wortweise ins Land der Väter.

Lasset uns also die gütige Vorsehung anbeten, die durch
das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache
im Jnnern die Menschen einander gleicher machte, als es ihr
Aeußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch
Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben
ans Wort der Väter. Wie nun der ungelehrigste Sprach-
schüler der wäre, der vom ersten Gebrauch der Worte Ursach
und Rechenschaft foderte: so muß ein ähnlicher Glaube an so
schwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Er-
fahrung sind, uns mit gesunder Zuversicht durchs ganze Leben
leiten. Wer seinen Sinnen nicht traut, ist ein Thor und muß
ein leerer Speculant werden; dagegen wer sie trauend übt und
eben dadurch erforscht und berichtigt, der allein gewinnet ei-
nen Schatz der Erfahrung für sein menschliches Leben. Jhm

ist

ſie das Urbild aller menſchlichen Vollkommenheit, Gluͤckſeligkeit
und Staͤrke? Laß es ſeyn, daß jener in Bildern denke, was
er abſtract zu denken noch nicht vermag; ſelbſt wenn er noch
keinen entwickelten Gedanken d. i. kein Wort von Gott haͤtte
und er genoͤße Gott als den großen Geiſt der Schoͤpfung thaͤ-
tig in ſeinem Leben; o ſo lebet er dankbar, indem er zufrieden
lebet und wenn er ſich in Wortziffern keine unſterbliche Seele
erweiſen kann und glaubt dieſelbe: ſo geht er mit gluͤcklicherm
Muth als mancher zweifelnde Wortweiſe ins Land der Vaͤter.

Laſſet uns alſo die guͤtige Vorſehung anbeten, die durch
das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache
im Jnnern die Menſchen einander gleicher machte, als es ihr
Aeußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch
Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben
ans Wort der Vaͤter. Wie nun der ungelehrigſte Sprach-
ſchuͤler der waͤre, der vom erſten Gebrauch der Worte Urſach
und Rechenſchaft foderte: ſo muß ein aͤhnlicher Glaube an ſo
ſchwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Er-
fahrung ſind, uns mit geſunder Zuverſicht durchs ganze Leben
leiten. Wer ſeinen Sinnen nicht traut, iſt ein Thor und muß
ein leerer Speculant werden; dagegen wer ſie trauend uͤbt und
eben dadurch erforſcht und berichtigt, der allein gewinnet ei-
nen Schatz der Erfahrung fuͤr ſein menſchliches Leben. Jhm

iſt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0246" n="234"/>
&#x017F;ie das Urbild aller men&#x017F;chlichen Vollkommenheit, Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit<lb/>
und Sta&#x0364;rke? Laß es &#x017F;eyn, daß jener in Bildern denke, was<lb/>
er ab&#x017F;tract zu denken noch nicht vermag; &#x017F;elb&#x017F;t wenn er noch<lb/>
keinen entwickelten Gedanken d. i. kein Wort von Gott ha&#x0364;tte<lb/>
und er geno&#x0364;ße Gott als den großen Gei&#x017F;t der Scho&#x0364;pfung tha&#x0364;-<lb/>
tig in &#x017F;einem Leben; o &#x017F;o lebet er dankbar, indem er zufrieden<lb/>
lebet und wenn er &#x017F;ich in Wortziffern keine un&#x017F;terbliche Seele<lb/>
erwei&#x017F;en kann und glaubt die&#x017F;elbe: &#x017F;o geht er mit glu&#x0364;cklicherm<lb/>
Muth als mancher zweifelnde Wortwei&#x017F;e ins Land der Va&#x0364;ter.</p><lb/>
          <p>La&#x017F;&#x017F;et uns al&#x017F;o die gu&#x0364;tige Vor&#x017F;ehung anbeten, die durch<lb/>
das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache<lb/>
im Jnnern die Men&#x017F;chen einander gleicher machte, als es ihr<lb/>
Aeußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch<lb/>
Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben<lb/>
ans Wort der Va&#x0364;ter. Wie nun der ungelehrig&#x017F;te Sprach-<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;ler der wa&#x0364;re, der vom er&#x017F;ten Gebrauch der Worte Ur&#x017F;ach<lb/>
und Rechen&#x017F;chaft foderte: &#x017F;o muß ein a&#x0364;hnlicher Glaube an &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Er-<lb/>
fahrung &#x017F;ind, uns mit ge&#x017F;under Zuver&#x017F;icht durchs ganze Leben<lb/>
leiten. Wer &#x017F;einen Sinnen nicht traut, i&#x017F;t ein Thor und muß<lb/>
ein leerer Speculant werden; dagegen wer &#x017F;ie trauend u&#x0364;bt und<lb/>
eben dadurch erfor&#x017F;cht und berichtigt, der allein gewinnet ei-<lb/>
nen Schatz der Erfahrung fu&#x0364;r &#x017F;ein men&#x017F;chliches Leben. Jhm<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">i&#x017F;t</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0246] ſie das Urbild aller menſchlichen Vollkommenheit, Gluͤckſeligkeit und Staͤrke? Laß es ſeyn, daß jener in Bildern denke, was er abſtract zu denken noch nicht vermag; ſelbſt wenn er noch keinen entwickelten Gedanken d. i. kein Wort von Gott haͤtte und er genoͤße Gott als den großen Geiſt der Schoͤpfung thaͤ- tig in ſeinem Leben; o ſo lebet er dankbar, indem er zufrieden lebet und wenn er ſich in Wortziffern keine unſterbliche Seele erweiſen kann und glaubt dieſelbe: ſo geht er mit gluͤcklicherm Muth als mancher zweifelnde Wortweiſe ins Land der Vaͤter. Laſſet uns alſo die guͤtige Vorſehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Jnnern die Menſchen einander gleicher machte, als es ihr Aeußeres zeiget. Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Tradition, durch Glauben ans Wort der Vaͤter. Wie nun der ungelehrigſte Sprach- ſchuͤler der waͤre, der vom erſten Gebrauch der Worte Urſach und Rechenſchaft foderte: ſo muß ein aͤhnlicher Glaube an ſo ſchwere Dinge als die Beobachtung der Natur und die Er- fahrung ſind, uns mit geſunder Zuverſicht durchs ganze Leben leiten. Wer ſeinen Sinnen nicht traut, iſt ein Thor und muß ein leerer Speculant werden; dagegen wer ſie trauend uͤbt und eben dadurch erforſcht und berichtigt, der allein gewinnet ei- nen Schatz der Erfahrung fuͤr ſein menſchliches Leben. Jhm iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/246
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/246>, abgerufen am 29.04.2024.