de als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, giebt es kein wahres Ver- ständniß der Gemüther, keine ge- meinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammen- empfindung, kein vaterländisches Publicum mehr. Entweder bequemt man sich nach der fremden Denkart des Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft um dessen leere Vorstellungsweise, wie um einen nichtigen Schatten; oder man spricht und schreibt nicht für ihn; er ist ein tod- tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir- kendes Glied der Gemeine. Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes ist, so kann diese zu gemeinschaft- lichen, allumfassenden, und aufs tiefste greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes tönen; sie muß von Jugend auf, durch alle Classen der Na-
Fünfte Samml. (E)
de als Sproſſen Eines Baumes erzogen werden, giebt es kein wahres Ver- ſtaͤndniß der Gemuͤther, keine ge- meinſame patriotiſche Bildung, keine innige Mit- und Zuſammen- empfindung, kein vaterlaͤndiſches Publicum mehr. Entweder bequemt man ſich nach der fremden Denkart des Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft um deſſen leere Vorſtellungsweiſe, wie um einen nichtigen Schatten; oder man ſpricht und ſchreibt nicht fuͤr ihn; er iſt ein tod- tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir- kendes Glied der Gemeine. Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes iſt, ſo kann dieſe zu gemeinſchaft- lichen, allumfaſſenden, und aufs tiefſte greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes toͤnen; ſie muß von Jugend auf, durch alle Claſſen der Na-
Fuͤnfte Samml. (E)
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0080"n="65"/>
de als Sproſſen Eines Baumes erzogen<lb/>
werden, giebt es <hirendition="#g">kein wahres Ver</hi>-<lb/><hirendition="#g">ſtaͤndniß der Gemuͤther</hi>, <hirendition="#g">keine ge</hi>-<lb/><hirendition="#g">meinſame patriotiſche Bildung</hi>,<lb/><hirendition="#g">keine innige Mit</hi>- <hirendition="#g">und Zuſammen</hi>-<lb/><hirendition="#g">empfindung</hi>, <hirendition="#g">kein vaterlaͤndiſches<lb/>
Publicum mehr</hi>. Entweder bequemt<lb/>
man ſich nach der fremden Denkart des<lb/>
Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft<lb/>
um deſſen leere Vorſtellungsweiſe, wie um<lb/>
einen nichtigen Schatten; oder man ſpricht<lb/>
und ſchreibt nicht fuͤr ihn; er iſt ein tod-<lb/>
tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir-<lb/>
kendes Glied der Gemeine. Wenn die<lb/>
Stimme des Vaterlandes die Stimme<lb/>
Gottes iſt, ſo kann dieſe zu gemeinſchaft-<lb/>
lichen, allumfaſſenden, und aufs tiefſte<lb/>
greifenden Zwecken nur in der <hirendition="#g">Sprache<lb/>
des Vaterlandes</hi> toͤnen; ſie muß von<lb/>
Jugend auf, durch alle Claſſen der Na-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Fuͤnfte Samml. (E)</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[65/0080]
de als Sproſſen Eines Baumes erzogen
werden, giebt es kein wahres Ver-
ſtaͤndniß der Gemuͤther, keine ge-
meinſame patriotiſche Bildung,
keine innige Mit- und Zuſammen-
empfindung, kein vaterlaͤndiſches
Publicum mehr. Entweder bequemt
man ſich nach der fremden Denkart des
Andern, und buhlt ohne Dank und Kraft
um deſſen leere Vorſtellungsweiſe, wie um
einen nichtigen Schatten; oder man ſpricht
und ſchreibt nicht fuͤr ihn; er iſt ein tod-
tes oder ein hinderndes, oft feindlich-wir-
kendes Glied der Gemeine. Wenn die
Stimme des Vaterlandes die Stimme
Gottes iſt, ſo kann dieſe zu gemeinſchaft-
lichen, allumfaſſenden, und aufs tiefſte
greifenden Zwecken nur in der Sprache
des Vaterlandes toͤnen; ſie muß von
Jugend auf, durch alle Claſſen der Na-
Fuͤnfte Samml. (E)
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 5. Riga, 1795, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet05_1795/80>, abgerufen am 29.05.2023.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2023. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.