Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

chen auch nur von ferne gesehen? der da weiß,
daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte
sich merklich verändert, und der die Zeit des
Homers kennt, wo die Griechischen Staa-
ten sich erst zu bilden ansiengen, und also
nothwendig mehr und wichtigere Verände-
rungen in der Sprache erfuhren, als wir in
einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen
Staat. Man muß also nothwendig eine Zeit
festsezzen, wenn wurde der Homer so und so
wenig verstanden? Wie er sang? Nun! da
sang er als aoidos, und nothwendig also, wenn
es damals kalous k'agathous gab, die gute
hübsche Leute
bedeuteten, diesen verständlich.
Jst das Leben Homers wahr, das man dem
Herodot zuschreibt: so zog er umher; fand
in einigen Städten Beifall auf den Märkten,
und Ehre in den Staaten: seine Sprache
war göttlich, neu; aber im Ganzen verständ-
lich; weil damals noch nicht ein Unterschied
zwischen der Sprache der Weisen und des
Volks, zwischen der Denkart der Vornehmen
und Geringen war; was Homer sang, war
die Sprache der Götter und zugleich eine ver-
edelte Sprache des Pöbels. Nur in einigen

Republi-

chen auch nur von ferne geſehen? der da weiß,
daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte
ſich merklich veraͤndert, und der die Zeit des
Homers kennt, wo die Griechiſchen Staa-
ten ſich erſt zu bilden anſiengen, und alſo
nothwendig mehr und wichtigere Veraͤnde-
rungen in der Sprache erfuhren, als wir in
einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen
Staat. Man muß alſo nothwendig eine Zeit
feſtſezzen, wenn wurde der Homer ſo und ſo
wenig verſtanden? Wie er ſang? Nun! da
ſang er als αοιδος, und nothwendig alſo, wenn
es damals καλους κ’αγαϑους gab, die gute
huͤbſche Leute
bedeuteten, dieſen verſtaͤndlich.
Jſt das Leben Homers wahr, das man dem
Herodot zuſchreibt: ſo zog er umher; fand
in einigen Staͤdten Beifall auf den Maͤrkten,
und Ehre in den Staaten: ſeine Sprache
war goͤttlich, neu; aber im Ganzen verſtaͤnd-
lich; weil damals noch nicht ein Unterſchied
zwiſchen der Sprache der Weiſen und des
Volks, zwiſchen der Denkart der Vornehmen
und Geringen war; was Homer ſang, war
die Sprache der Goͤtter und zugleich eine ver-
edelte Sprache des Poͤbels. Nur in einigen

Republi-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0112" n="280"/>
chen auch nur von ferne ge&#x017F;ehen? der da weiß,<lb/>
daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte<lb/>
&#x017F;ich merklich vera&#x0364;ndert, und der die Zeit des<lb/>
Homers kennt, wo die Griechi&#x017F;chen Staa-<lb/>
ten &#x017F;ich er&#x017F;t zu bilden an&#x017F;iengen, und al&#x017F;o<lb/>
nothwendig mehr und wichtigere Vera&#x0364;nde-<lb/>
rungen in der Sprache erfuhren, als wir in<lb/>
einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen<lb/>
Staat. Man muß al&#x017F;o nothwendig eine Zeit<lb/>
fe&#x017F;t&#x017F;ezzen, wenn wurde der Homer &#x017F;o und &#x017F;o<lb/>
wenig ver&#x017F;tanden? Wie er &#x017F;ang? Nun! da<lb/>
&#x017F;ang er als &#x03B1;&#x03BF;&#x03B9;&#x03B4;&#x03BF;&#x03C2;, und nothwendig al&#x017F;o, wenn<lb/>
es damals &#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; &#x03BA;&#x2019;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; gab, die <hi rendition="#fr">gute<lb/>
hu&#x0364;b&#x017F;che Leute</hi> bedeuteten, die&#x017F;en ver&#x017F;ta&#x0364;ndlich.<lb/>
J&#x017F;t das Leben Homers wahr, das man dem<lb/>
Herodot zu&#x017F;chreibt: &#x017F;o zog er umher; fand<lb/>
in einigen Sta&#x0364;dten Beifall auf den Ma&#x0364;rkten,<lb/>
und Ehre in den Staaten: &#x017F;eine Sprache<lb/>
war go&#x0364;ttlich, neu; aber im Ganzen ver&#x017F;ta&#x0364;nd-<lb/>
lich; weil damals noch nicht ein Unter&#x017F;chied<lb/>
zwi&#x017F;chen der Sprache der Wei&#x017F;en und des<lb/>
Volks, zwi&#x017F;chen der Denkart der Vornehmen<lb/>
und Geringen war; was Homer &#x017F;ang, war<lb/>
die Sprache der Go&#x0364;tter und zugleich eine ver-<lb/>
edelte Sprache des Po&#x0364;bels. Nur in einigen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Republi-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0112] chen auch nur von ferne geſehen? der da weiß, daß jede Sprache alle Viertheil Jahrhunderte ſich merklich veraͤndert, und der die Zeit des Homers kennt, wo die Griechiſchen Staa- ten ſich erſt zu bilden anſiengen, und alſo nothwendig mehr und wichtigere Veraͤnde- rungen in der Sprache erfuhren, als wir in einer gebildeten Sprache, und einem ruhigen Staat. Man muß alſo nothwendig eine Zeit feſtſezzen, wenn wurde der Homer ſo und ſo wenig verſtanden? Wie er ſang? Nun! da ſang er als αοιδος, und nothwendig alſo, wenn es damals καλους κ’αγαϑους gab, die gute huͤbſche Leute bedeuteten, dieſen verſtaͤndlich. Jſt das Leben Homers wahr, das man dem Herodot zuſchreibt: ſo zog er umher; fand in einigen Staͤdten Beifall auf den Maͤrkten, und Ehre in den Staaten: ſeine Sprache war goͤttlich, neu; aber im Ganzen verſtaͤnd- lich; weil damals noch nicht ein Unterſchied zwiſchen der Sprache der Weiſen und des Volks, zwiſchen der Denkart der Vornehmen und Geringen war; was Homer ſang, war die Sprache der Goͤtter und zugleich eine ver- edelte Sprache des Poͤbels. Nur in einigen Republi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/112
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/112>, abgerufen am 27.04.2024.