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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Republiken, wo die Mundart schon mehr Po-
litisch geworden war, da war seine Sprache
fremde, ungewöhnlich, und in Athen, wo
er nachher so viel galt, kostete ihm seine Ra-
serei 50 Drachmen. Jn dieser Poetischen
Zeit betrachtet, mochte also das eben so we-
nig,
das der Kunstrichter behauptet, nicht ge-
nau eintreffen: damals war seine Sprache
eben die Sprache des Volks, die Kenner der
Dichtkunst waren häufiger, und die Dichter
selbst -- wer die Dichterei der alten rapso-
don und aoidon kennet, wird ihre Dichtkunst
unmöglich mit der unsrigen vergleichen.

Meint aber der Kunstrichter, die Zeit, da
Homer gelesen wurde: so trift es eben so we-
nig ein. Die Glieder des Dichters wurden
erst in der 61. Olympiade gesamlet, da er doch
nach der gemeinsten Rechnung immer vor den
Olympiaden gelebt hat. Hier muß man nun
ausmachen, wer waren die alle, die den Ho-
mer verstehen sollten? Jch nehme eine mitle-
re Größe an: laß es gute hübsche Leute ge-
wesen seyn (kaloi k'agathoi)! Nun! weiß
ja aber, wer im Plato auch nur bis in die
Mitte seines ersten Gesprächs gekommen, daß

Hip-
T 3

Republiken, wo die Mundart ſchon mehr Po-
litiſch geworden war, da war ſeine Sprache
fremde, ungewoͤhnlich, und in Athen, wo
er nachher ſo viel galt, koſtete ihm ſeine Ra-
ſerei 50 Drachmen. Jn dieſer Poetiſchen
Zeit betrachtet, mo̊chte alſo das eben ſo we-
nig,
das der Kunſtrichter behauptet, nicht ge-
nau eintreffen: damals war ſeine Sprache
eben die Sprache des Volks, die Kenner der
Dichtkunſt waren haͤufiger, und die Dichter
ſelbſt — wer die Dichterei der alten ραψω-
δων und αοιδων kennet, wird ihre Dichtkunſt
unmoͤglich mit der unſrigen vergleichen.

Meint aber der Kunſtrichter, die Zeit, da
Homer geleſen wurde: ſo trift es eben ſo we-
nig ein. Die Glieder des Dichters wurden
erſt in der 61. Olympiade geſamlet, da er doch
nach der gemeinſten Rechnung immer vor den
Olympiaden gelebt hat. Hier muß man nun
ausmachen, wer waren die alle, die den Ho-
mer verſtehen ſollten? Jch nehme eine mitle-
re Groͤße an: laß es gute huͤbſche Leute ge-
weſen ſeyn (καλοι κ’αγαϑοι)! Nun! weiß
ja aber, wer im Plato auch nur bis in die
Mitte ſeines erſten Geſpraͤchs gekommen, daß

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T 3
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[281/0113] Republiken, wo die Mundart ſchon mehr Po- litiſch geworden war, da war ſeine Sprache fremde, ungewoͤhnlich, und in Athen, wo er nachher ſo viel galt, koſtete ihm ſeine Ra- ſerei 50 Drachmen. Jn dieſer Poetiſchen Zeit betrachtet, mo̊chte alſo das eben ſo we- nig, das der Kunſtrichter behauptet, nicht ge- nau eintreffen: damals war ſeine Sprache eben die Sprache des Volks, die Kenner der Dichtkunſt waren haͤufiger, und die Dichter ſelbſt — wer die Dichterei der alten ραψω- δων und αοιδων kennet, wird ihre Dichtkunſt unmoͤglich mit der unſrigen vergleichen. Meint aber der Kunſtrichter, die Zeit, da Homer geleſen wurde: ſo trift es eben ſo we- nig ein. Die Glieder des Dichters wurden erſt in der 61. Olympiade geſamlet, da er doch nach der gemeinſten Rechnung immer vor den Olympiaden gelebt hat. Hier muß man nun ausmachen, wer waren die alle, die den Ho- mer verſtehen ſollten? Jch nehme eine mitle- re Groͤße an: laß es gute huͤbſche Leute ge- weſen ſeyn (καλοι κ’αγαϑοι)! Nun! weiß ja aber, wer im Plato auch nur bis in die Mitte ſeines erſten Geſpraͤchs gekommen, daß Hip- T 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/113>, abgerufen am 28.04.2024.