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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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um das ganze Volk anfzubringen, ziehen
könnten. Was Jesus ihnen ärgerliches ge-
than hat, wird erzählt, nicht aber im An-
fange des Gedichts handelnd zum Grunde ge-
legt: so sehen wir Effekt, ohne die Ursache
selbst gesehen zu haben: der Epopee entgeht
etwas an Poetischer Wahrscheinlichkeit.

Christ. Jch gebe Jhnen einigen Beifall,
aber aus andern Gründen. Der Meßias
erscheint nach den Weißagungen des A. und
den Erzälungen des N. Testaments viel
menschlicher, als ihn K. malet. Die
Epopee fodert nicht ein Jdeal, was über-
menschlich wäre, sondern was die höchste
Rührung verursacht: nun entgeht aber dem
Gedichte des K. viel von diesem Leben, weil
wir den Heiland zu wenig menschlich sehen;
und es bleibt doch immer wahr; nichts be-
wegt eine menschliche Seele, als was selbst
in ihr vorgehen kann. Sähen wir öfter
unsern Bruder, den grösten Menschenfreund:
so würde dies eher das Ziel erreichen, "die
"ganze Seele zu bewegen und jede Saite der
"Empfindung zu treffen."

Rabbi.

um das ganze Volk anfzubringen, ziehen
koͤnnten. Was Jeſus ihnen aͤrgerliches ge-
than hat, wird erzaͤhlt, nicht aber im An-
fange des Gedichts handelnd zum Grunde ge-
legt: ſo ſehen wir Effekt, ohne die Urſache
ſelbſt geſehen zu haben: der Epopee entgeht
etwas an Poetiſcher Wahrſcheinlichkeit.

Chriſt. Jch gebe Jhnen einigen Beifall,
aber aus andern Gruͤnden. Der Meßias
erſcheint nach den Weißagungen des A. und
den Erzaͤlungen des N. Teſtaments viel
menſchlicher, als ihn K. malet. Die
Epopee fodert nicht ein Jdeal, was uͤber-
menſchlich waͤre, ſondern was die hoͤchſte
Ruͤhrung verurſacht: nun entgeht aber dem
Gedichte des K. viel von dieſem Leben, weil
wir den Heiland zu wenig menſchlich ſehen;
und es bleibt doch immer wahr; nichts be-
wegt eine menſchliche Seele, als was ſelbſt
in ihr vorgehen kann. Saͤhen wir oͤfter
unſern Bruder, den groͤſten Menſchenfreund:
ſo wuͤrde dies eher das Ziel erreichen, „die
„ganze Seele zu bewegen und jede Saite der
„Empfindung zu treffen.„

Rabbi.
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[246/0078] um das ganze Volk anfzubringen, ziehen koͤnnten. Was Jeſus ihnen aͤrgerliches ge- than hat, wird erzaͤhlt, nicht aber im An- fange des Gedichts handelnd zum Grunde ge- legt: ſo ſehen wir Effekt, ohne die Urſache ſelbſt geſehen zu haben: der Epopee entgeht etwas an Poetiſcher Wahrſcheinlichkeit. Chriſt. Jch gebe Jhnen einigen Beifall, aber aus andern Gruͤnden. Der Meßias erſcheint nach den Weißagungen des A. und den Erzaͤlungen des N. Teſtaments viel menſchlicher, als ihn K. malet. Die Epopee fodert nicht ein Jdeal, was uͤber- menſchlich waͤre, ſondern was die hoͤchſte Ruͤhrung verurſacht: nun entgeht aber dem Gedichte des K. viel von dieſem Leben, weil wir den Heiland zu wenig menſchlich ſehen; und es bleibt doch immer wahr; nichts be- wegt eine menſchliche Seele, als was ſelbſt in ihr vorgehen kann. Saͤhen wir oͤfter unſern Bruder, den groͤſten Menſchenfreund: ſo wuͤrde dies eher das Ziel erreichen, „die „ganze Seele zu bewegen und jede Saite der „Empfindung zu treffen.„ Rabbi.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/78>, abgerufen am 29.04.2024.