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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Sie sind wirklich in Verlegenheit! -- Sein
Leiden vor Gott
* ist mir nicht sinnlich
begreiflich gnug; und dies ist doch der Mit-
telpunkt seines Gedichts.

Christ. Das war freilich auf gut Jüdisch!
Aber mein Heterodoxer Rabbi erinnern Sie
sich an jenes: Ne vltra! -- Es mag im-
mer wahr seyn, daß K. oft das Erhabene
und Moralische auf Kosten des Episch
rührenden treibt; aber das ist schon theils
die Schwäche, theils die Mode unsrer Zeit,
[o]der beides zusammen. Wer kann davor,
daß K. es für den lezten Endzweck der hö-
hern Poesie hält, nicht "alle unsre sinnliche
"Kräfte zu bewegen," sondern "die mora-
"lische Schönheit." Sie sey das wahre
Kennzeichen des Werths von jener.

Rabbi. Ja! des sittlichen Praktischen,
nicht aber des dichterischen Werths; ein
Kennzeichen der Güte freilich; nicht aber
der Schönheit und der höchsten Schönheit.
Ueberhaupt verdient in vielen Stücken die
Klopstockische Abhandlung von der heiligen

Poesie
* s. Meßiade 5. Ges.

Sie ſind wirklich in Verlegenheit! — Sein
Leiden vor Gott
* iſt mir nicht ſinnlich
begreiflich gnug; und dies iſt doch der Mit-
telpunkt ſeines Gedichts.

Chriſt. Das war freilich auf gut Juͤdiſch!
Aber mein Heterodoxer Rabbi erinnern Sie
ſich an jenes: Ne vltra! — Es mag im-
mer wahr ſeyn, daß K. oft das Erhabene
und Moraliſche auf Koſten des Epiſch
ruͤhrenden treibt; aber das iſt ſchon theils
die Schwaͤche, theils die Mode unſrer Zeit,
[o]der beides zuſammen. Wer kann davor,
daß K. es fuͤr den lezten Endzweck der hoͤ-
hern Poeſie haͤlt, nicht „alle unſre ſinnliche
„Kraͤfte zu bewegen,„ ſondern „die mora-
„liſche Schoͤnheit.„ Sie ſey das wahre
Kennzeichen des Werths von jener.

Rabbi. Ja! des ſittlichen Praktiſchen,
nicht aber des dichteriſchen Werths; ein
Kennzeichen der Guͤte freilich; nicht aber
der Schoͤnheit und der hoͤchſten Schoͤnheit.
Ueberhaupt verdient in vielen Stuͤcken die
Klopſtockiſche Abhandlung von der heiligen

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* ſ. Meßiade 5. Geſ.
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[255/0087] Sie ſind wirklich in Verlegenheit! — Sein Leiden vor Gott * iſt mir nicht ſinnlich begreiflich gnug; und dies iſt doch der Mit- telpunkt ſeines Gedichts. Chriſt. Das war freilich auf gut Juͤdiſch! Aber mein Heterodoxer Rabbi erinnern Sie ſich an jenes: Ne vltra! — Es mag im- mer wahr ſeyn, daß K. oft das Erhabene und Moraliſche auf Koſten des Epiſch ruͤhrenden treibt; aber das iſt ſchon theils die Schwaͤche, theils die Mode unſrer Zeit, oder beides zuſammen. Wer kann davor, daß K. es fuͤr den lezten Endzweck der hoͤ- hern Poeſie haͤlt, nicht „alle unſre ſinnliche „Kraͤfte zu bewegen,„ ſondern „die mora- „liſche Schoͤnheit.„ Sie ſey das wahre Kennzeichen des Werths von jener. Rabbi. Ja! des ſittlichen Praktiſchen, nicht aber des dichteriſchen Werths; ein Kennzeichen der Guͤte freilich; nicht aber der Schoͤnheit und der hoͤchſten Schoͤnheit. Ueberhaupt verdient in vielen Stuͤcken die Klopſtockiſche Abhandlung von der heiligen Poeſie * ſ. Meßiade 5. Geſ.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/87>, abgerufen am 29.04.2024.