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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Poesie gründlich geprüft zu werden; und viel-
leicht sage ich Jhnen ein andermal meine Ge-
danken darüber!

Christ. Und vielleicht zeige ich Jhnen künf-
tig den Grundriß, den ich bei dem dritten Le-
sen des Meßias entworfen. Jezt haben
wir nur immer Abwege oder Lücken, Fehler
oder Schwächen gezeigt; mehr kann die Kri-
tik nicht; aber das Genie ists, was jene
Abwege und Fehler vermeiden, und auch Lü-
cken und Schwächen vollfüllen muß.

Rabbi. Desto lieber für mich, wenn ich
Jhren Embryon vom Plan sehe! Vielleicht
hat er mit den Fehlern auch die Schönheiten
K. vermieden, unter denen seine Fehler ganz
verschwinden. Nirgends ist K. größer, als
wenn er, ein Kenner des menschlichen Geistes,
jezt einen Sturm von Gedanken und Empfin-
dungen aus der Tiefe der Seele holt und ihn
bis zum Himmel brausen läßt: wenn er ei-
nen Strudel von Zweifeln, Bekümmernissen,
und Aengsten erregt; wie Philo, der verzwei-
felnde Jscharioth, Petrus und insonderheit
das große Geschöpf seiner Phantasie Aban-
donna zeigt.

Christ.

Poeſie gruͤndlich gepruͤft zu werden; und viel-
leicht ſage ich Jhnen ein andermal meine Ge-
danken daruͤber!

Chriſt. Und vielleicht zeige ich Jhnen kuͤnf-
tig den Grundriß, den ich bei dem dritten Le-
ſen des Meßias entworfen. Jezt haben
wir nur immer Abwege oder Luͤcken, Fehler
oder Schwaͤchen gezeigt; mehr kann die Kri-
tik nicht; aber das Genie iſts, was jene
Abwege und Fehler vermeiden, und auch Luͤ-
cken und Schwaͤchen vollfuͤllen muß.

Rabbi. Deſto lieber fuͤr mich, wenn ich
Jhren Embryon vom Plan ſehe! Vielleicht
hat er mit den Fehlern auch die Schoͤnheiten
K. vermieden, unter denen ſeine Fehler ganz
verſchwinden. Nirgends iſt K. groͤßer, als
wenn er, ein Kenner des menſchlichen Geiſtes,
jezt einen Sturm von Gedanken und Empfin-
dungen aus der Tiefe der Seele holt und ihn
bis zum Himmel brauſen laͤßt: wenn er ei-
nen Strudel von Zweifeln, Bekuͤmmerniſſen,
und Aengſten erregt; wie Philo, der verzwei-
felnde Jſcharioth, Petrus und inſonderheit
das große Geſchoͤpf ſeiner Phantaſie Aban-
donna zeigt.

Chriſt.
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[256/0088] Poeſie gruͤndlich gepruͤft zu werden; und viel- leicht ſage ich Jhnen ein andermal meine Ge- danken daruͤber! Chriſt. Und vielleicht zeige ich Jhnen kuͤnf- tig den Grundriß, den ich bei dem dritten Le- ſen des Meßias entworfen. Jezt haben wir nur immer Abwege oder Luͤcken, Fehler oder Schwaͤchen gezeigt; mehr kann die Kri- tik nicht; aber das Genie iſts, was jene Abwege und Fehler vermeiden, und auch Luͤ- cken und Schwaͤchen vollfuͤllen muß. Rabbi. Deſto lieber fuͤr mich, wenn ich Jhren Embryon vom Plan ſehe! Vielleicht hat er mit den Fehlern auch die Schoͤnheiten K. vermieden, unter denen ſeine Fehler ganz verſchwinden. Nirgends iſt K. groͤßer, als wenn er, ein Kenner des menſchlichen Geiſtes, jezt einen Sturm von Gedanken und Empfin- dungen aus der Tiefe der Seele holt und ihn bis zum Himmel brauſen laͤßt: wenn er ei- nen Strudel von Zweifeln, Bekuͤmmerniſſen, und Aengſten erregt; wie Philo, der verzwei- felnde Jſcharioth, Petrus und inſonderheit das große Geſchoͤpf ſeiner Phantaſie Aban- donna zeigt. Chriſt.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/88>, abgerufen am 29.04.2024.