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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778.

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ihrem Scherer und nach einer guten Vier-
telstunde allererst, nachdem das Herzgespann
nachgelassen, sang sie ohne zu sagen von
wem das Lied gedichtet war

Wenn böse Zungen stechen
mir Glimpf und Namen brechen
will ich bezähmen mich,
das Unrecht will ich dulden
dem Nächsten

(meine Mutter sang

dieses Wort mit einem
tiefen Seufzer)

seine Schulden
verzeihen gern und williglich.

Dieses war auf heute genug am Gemälde
meiner Mutter. Daß sie Gedächtnis und wo
nicht eine poetische Puls so doch Blut- ader
wo nicht praßlendes Odenfeuer, so doch eine
glühende Kohle vom Altar gehabt, werden
meine Leser selbst gefunden haben. Noch
einen Zug um die Nase herum, der sich
eben bey mir meldet, und es übel nehmen
könnte; wenn ich ihn nicht so spät es auch
ist, beherbergen solte. Meine Kreutzbare
Mutter war eine so große Verehrerin der
Reime, daß sie sogar ein Gelübde abgelegt
hatte, gewiße Worte nie zu trennen. Kern
und Stern, Rath und That, Kind und
Rind, Hack und Pack, Dach und Fach,

Knall

ihrem Scherer und nach einer guten Vier-
telſtunde allererſt, nachdem das Herzgeſpann
nachgelaſſen, ſang ſie ohne zu ſagen von
wem das Lied gedichtet war

Wenn boͤſe Zungen ſtechen
mir Glimpf und Namen brechen
will ich bezaͤhmen mich,
das Unrecht will ich dulden
dem Naͤchſten

(meine Mutter ſang

dieſes Wort mit einem
tiefen Seufzer)

ſeine Schulden
verzeihen gern und williglich.

Dieſes war auf heute genug am Gemaͤlde
meiner Mutter. Daß ſie Gedaͤchtnis und wo
nicht eine poetiſche Puls ſo doch Blut- ader
wo nicht praßlendes Odenfeuer, ſo doch eine
gluͤhende Kohle vom Altar gehabt, werden
meine Leſer ſelbſt gefunden haben. Noch
einen Zug um die Naſe herum, der ſich
eben bey mir meldet, und es uͤbel nehmen
koͤnnte; wenn ich ihn nicht ſo ſpaͤt es auch
iſt, beherbergen ſolte. Meine Kreutzbare
Mutter war eine ſo große Verehrerin der
Reime, daß ſie ſogar ein Geluͤbde abgelegt
hatte, gewiße Worte nie zu trennen. Kern
und Stern, Rath und That, Kind und
Rind, Hack und Pack, Dach und Fach,

Knall
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[43/0051] ihrem Scherer und nach einer guten Vier- telſtunde allererſt, nachdem das Herzgeſpann nachgelaſſen, ſang ſie ohne zu ſagen von wem das Lied gedichtet war Wenn boͤſe Zungen ſtechen mir Glimpf und Namen brechen will ich bezaͤhmen mich, das Unrecht will ich dulden dem Naͤchſten (meine Mutter ſang dieſes Wort mit einem tiefen Seufzer) ſeine Schulden verzeihen gern und williglich. Dieſes war auf heute genug am Gemaͤlde meiner Mutter. Daß ſie Gedaͤchtnis und wo nicht eine poetiſche Puls ſo doch Blut- ader wo nicht praßlendes Odenfeuer, ſo doch eine gluͤhende Kohle vom Altar gehabt, werden meine Leſer ſelbſt gefunden haben. Noch einen Zug um die Naſe herum, der ſich eben bey mir meldet, und es uͤbel nehmen koͤnnte; wenn ich ihn nicht ſo ſpaͤt es auch iſt, beherbergen ſolte. Meine Kreutzbare Mutter war eine ſo große Verehrerin der Reime, daß ſie ſogar ein Geluͤbde abgelegt hatte, gewiße Worte nie zu trennen. Kern und Stern, Rath und That, Kind und Rind, Hack und Pack, Dach und Fach, Knall

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/51>, abgerufen am 11.05.2024.