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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839.

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im Oberhofe ergangen war, nachdem der Jäger
die Lisbeth statt des Rehes geschossen hatte.

Die Verwundete war in jener Nacht auf ihr
Zimmer getragen worden und der Hofschulze, der
ganz verstört, was ihm selten begegnete, aus seiner
Kammer hervorkam, hatte sogleich nach dem nächsten
Chirurgus geschickt. Dieser Mann wohnte aber
anderthalb Stunden vom Oberhofe, er schlief fest
und ging ungern bei Nacht aus. Der Morgen
war daher schon angebrochen, als er endlich mit
seinen nothdürftigen Instrumenten anlangte. Er
nahm das Tuch von den Schultern, betrachtete die
Wunde und machte ein äußerst schwieriges Gesicht.
Indessen müssen selbst die Bedenklichkeiten eines
Dorfchirurgen vor der offenbaren Geringfügigkeit
eines Falls weichen. Der Schuß des jungen
Schwaben hatte Lisbeth glücklicherweise bloß ge-
streift, nur zwei Schrotkörner waren in das reine,
jungfräuliche Fleisch gedrungen, aber auch nicht
tief. Der Chirurgus zog sie heraus, legte einen
Verband auf, empfahl Ruhe und kaltes Wasser und
ging mit dem stolzen Gefühle nach Haus, daß,
wenn er nicht so schleunig herbeigerufen worden
wäre und nicht so unverdrossen bei Nacht seine

im Oberhofe ergangen war, nachdem der Jäger
die Lisbeth ſtatt des Rehes geſchoſſen hatte.

Die Verwundete war in jener Nacht auf ihr
Zimmer getragen worden und der Hofſchulze, der
ganz verſtört, was ihm ſelten begegnete, aus ſeiner
Kammer hervorkam, hatte ſogleich nach dem nächſten
Chirurgus geſchickt. Dieſer Mann wohnte aber
anderthalb Stunden vom Oberhofe, er ſchlief feſt
und ging ungern bei Nacht aus. Der Morgen
war daher ſchon angebrochen, als er endlich mit
ſeinen nothdürftigen Inſtrumenten anlangte. Er
nahm das Tuch von den Schultern, betrachtete die
Wunde und machte ein äußerſt ſchwieriges Geſicht.
Indeſſen müſſen ſelbſt die Bedenklichkeiten eines
Dorfchirurgen vor der offenbaren Geringfügigkeit
eines Falls weichen. Der Schuß des jungen
Schwaben hatte Lisbeth glücklicherweiſe bloß ge-
ſtreift, nur zwei Schrotkörner waren in das reine,
jungfräuliche Fleiſch gedrungen, aber auch nicht
tief. Der Chirurgus zog ſie heraus, legte einen
Verband auf, empfahl Ruhe und kaltes Waſſer und
ging mit dem ſtolzen Gefühle nach Haus, daß,
wenn er nicht ſo ſchleunig herbeigerufen worden
wäre und nicht ſo unverdroſſen bei Nacht ſeine

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[40/0054] im Oberhofe ergangen war, nachdem der Jäger die Lisbeth ſtatt des Rehes geſchoſſen hatte. Die Verwundete war in jener Nacht auf ihr Zimmer getragen worden und der Hofſchulze, der ganz verſtört, was ihm ſelten begegnete, aus ſeiner Kammer hervorkam, hatte ſogleich nach dem nächſten Chirurgus geſchickt. Dieſer Mann wohnte aber anderthalb Stunden vom Oberhofe, er ſchlief feſt und ging ungern bei Nacht aus. Der Morgen war daher ſchon angebrochen, als er endlich mit ſeinen nothdürftigen Inſtrumenten anlangte. Er nahm das Tuch von den Schultern, betrachtete die Wunde und machte ein äußerſt ſchwieriges Geſicht. Indeſſen müſſen ſelbſt die Bedenklichkeiten eines Dorfchirurgen vor der offenbaren Geringfügigkeit eines Falls weichen. Der Schuß des jungen Schwaben hatte Lisbeth glücklicherweiſe bloß ge- ſtreift, nur zwei Schrotkörner waren in das reine, jungfräuliche Fleiſch gedrungen, aber auch nicht tief. Der Chirurgus zog ſie heraus, legte einen Verband auf, empfahl Ruhe und kaltes Waſſer und ging mit dem ſtolzen Gefühle nach Haus, daß, wenn er nicht ſo ſchleunig herbeigerufen worden wäre und nicht ſo unverdroſſen bei Nacht ſeine

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/54>, abgerufen am 29.04.2024.