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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
der Form, dem allmähligen Verfall jener entspricht das Nach-
lassen der Strenge auf dieser Seite, und als jene völlig gebro-
chen und unter dem fortgesetzten Druck des Cäsaren-Regiments
den letzten Rest dessen, was noch an alter Kraft in ihr war,
ausgeathmet hatte, folgten auch die Formen und Formeln des
alten Rechts ihr bald nach; und würde es nicht schon an sich
zum Nachdenken auffordern, daß ihre Beseitigung gerade in
eine Zeit fällt, wo sich das souveräne Belieben unverhüllt und
offen als oberstes staatsrechtliches Princip auf den Thron ge-
setzt hatte: die Zeit der byzantinischen Kaiser, die Leichenrede,
mit der letztere dieselben begleiteten, die Abneigung und Gering-
schätzung gegen die, die sich in ihr ausspricht, 647) müßte uns
über das Verhältniß zwischen der Freiheit und der Form die
Augen öffnen. Die Form ist die geschworene Feindin
der Willkühr, die Zwillingsschwester der Freiheit
.
Denn die Form hält dem Versucher, der die Freiheit zur Zügel-
losigkeit zu verleiten sucht, das Gegengewicht, sie lenkt die Frei-
heitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zersplittern, und
kräftigt sie dadurch nach innen und schützt sie nach außen. Feste
Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der
Freiheit selber und andererseits eine Schutzmauer gegen äußere
Angriffe, -- sie lassen sich nur brechen, nicht biegen -- und wo
ein Volk sich wirklich auf den Dienst der Freiheit verstanden,
da hat es instinctiv auch den Werth der Form herausgefühlt
und geahnt, daß es in seinen Formen nicht etwas rein Aeußer-
liches besitze und festhalte, sondern das Palladium seiner
Freiheit
.

Schon diese erste Beobachtung, die wir an dem Object un-

647) L. 1 Cod. de form. subl. (2. 58) (342) juris formulae aucu-
patione syllabarum insidiantes .. L. 15 Cod. de testam. (6. 23) (339)
quoniam indignum est ob inanem observationem ... L. 9 Cod. qui
admitti ad B. P. p. (6. 9): Verborum inanium excludimus captiones:
(Constantin) L. 17 Cod. de jure delib. (6. 30) (407) cretionum scru-
pulosam solennitatem hac lege penitus amputari decernimus.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 32

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
der Form, dem allmähligen Verfall jener entſpricht das Nach-
laſſen der Strenge auf dieſer Seite, und als jene völlig gebro-
chen und unter dem fortgeſetzten Druck des Cäſaren-Regiments
den letzten Reſt deſſen, was noch an alter Kraft in ihr war,
ausgeathmet hatte, folgten auch die Formen und Formeln des
alten Rechts ihr bald nach; und würde es nicht ſchon an ſich
zum Nachdenken auffordern, daß ihre Beſeitigung gerade in
eine Zeit fällt, wo ſich das ſouveräne Belieben unverhüllt und
offen als oberſtes ſtaatsrechtliches Princip auf den Thron ge-
ſetzt hatte: die Zeit der byzantiniſchen Kaiſer, die Leichenrede,
mit der letztere dieſelben begleiteten, die Abneigung und Gering-
ſchätzung gegen die, die ſich in ihr ausſpricht, 647) müßte uns
über das Verhältniß zwiſchen der Freiheit und der Form die
Augen öffnen. Die Form iſt die geſchworene Feindin
der Willkühr, die Zwillingsſchweſter der Freiheit
.
Denn die Form hält dem Verſucher, der die Freiheit zur Zügel-
loſigkeit zu verleiten ſucht, das Gegengewicht, ſie lenkt die Frei-
heitsſubſtanz in feſte Bahnen, daß ſie ſich nicht zerſplittern, und
kräftigt ſie dadurch nach innen und ſchützt ſie nach außen. Feſte
Formen ſind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der
Freiheit ſelber und andererſeits eine Schutzmauer gegen äußere
Angriffe, — ſie laſſen ſich nur brechen, nicht biegen — und wo
ein Volk ſich wirklich auf den Dienſt der Freiheit verſtanden,
da hat es inſtinctiv auch den Werth der Form herausgefühlt
und geahnt, daß es in ſeinen Formen nicht etwas rein Aeußer-
liches beſitze und feſthalte, ſondern das Palladium ſeiner
Freiheit
.

Schon dieſe erſte Beobachtung, die wir an dem Object un-

647) L. 1 Cod. de form. subl. (2. 58) (342) juris formulae aucu-
patione syllabarum insidiantes .. L. 15 Cod. de testam. (6. 23) (339)
quoniam indignum est ob inanem observationem … L. 9 Cod. qui
admitti ad B. P. p. (6. 9): Verborum inanium excludimus captiones:
(Constantin) L. 17 Cod. de jure delib. (6. 30) (407) cretionum scru-
pulosam solennitatem hac lege penitus amputari decernimus.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 32
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[497/0203] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. der Form, dem allmähligen Verfall jener entſpricht das Nach- laſſen der Strenge auf dieſer Seite, und als jene völlig gebro- chen und unter dem fortgeſetzten Druck des Cäſaren-Regiments den letzten Reſt deſſen, was noch an alter Kraft in ihr war, ausgeathmet hatte, folgten auch die Formen und Formeln des alten Rechts ihr bald nach; und würde es nicht ſchon an ſich zum Nachdenken auffordern, daß ihre Beſeitigung gerade in eine Zeit fällt, wo ſich das ſouveräne Belieben unverhüllt und offen als oberſtes ſtaatsrechtliches Princip auf den Thron ge- ſetzt hatte: die Zeit der byzantiniſchen Kaiſer, die Leichenrede, mit der letztere dieſelben begleiteten, die Abneigung und Gering- ſchätzung gegen die, die ſich in ihr ausſpricht, 647) müßte uns über das Verhältniß zwiſchen der Freiheit und der Form die Augen öffnen. Die Form iſt die geſchworene Feindin der Willkühr, die Zwillingsſchweſter der Freiheit. Denn die Form hält dem Verſucher, der die Freiheit zur Zügel- loſigkeit zu verleiten ſucht, das Gegengewicht, ſie lenkt die Frei- heitsſubſtanz in feſte Bahnen, daß ſie ſich nicht zerſplittern, und kräftigt ſie dadurch nach innen und ſchützt ſie nach außen. Feſte Formen ſind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit ſelber und andererſeits eine Schutzmauer gegen äußere Angriffe, — ſie laſſen ſich nur brechen, nicht biegen — und wo ein Volk ſich wirklich auf den Dienſt der Freiheit verſtanden, da hat es inſtinctiv auch den Werth der Form herausgefühlt und geahnt, daß es in ſeinen Formen nicht etwas rein Aeußer- liches beſitze und feſthalte, ſondern das Palladium ſeiner Freiheit. Schon dieſe erſte Beobachtung, die wir an dem Object un- 647) L. 1 Cod. de form. subl. (2. 58) (342) juris formulae aucu- patione syllabarum insidiantes .. L. 15 Cod. de testam. (6. 23) (339) quoniam indignum est ob inanem observationem … L. 9 Cod. qui admitti ad B. P. p. (6. 9): Verborum inanium excludimus captiones: (Constantin) L. 17 Cod. de jure delib. (6. 30) (407) cretionum scru- pulosam solennitatem hac lege penitus amputari decernimus. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 32

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/203>, abgerufen am 29.03.2024.