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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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mende Regen that mir wohl; so war ich bald
aus dem Dorfe und auf eine Höhe gekommen,
auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute
und warf ein schwaches Licht in das Unwetter;
ich machte mir die bittersten Vorwürfe und fühlte
mich ganz zerknirscht, und als ich plötzlich zu
meinen Füßen den kleinen See und des Schul¬
meisters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den
grauen Schleier des Regens und der Dämmerung,
da sank ich erschöpft auf den Boden und brach
gar jämmerlich in Thränen aus. Es regnete
immerfort auf mich nieder, die Windstöße fuhren
und pfiffen durch die Luft und heulten erbärmlich
in den Bäumen, ich weinte dazu, was nur die
Augen fassen mochten; seltsamer Weise machte ich
Niemandem Vorwürfe, als mir selbst, und dachte
nicht daran, der Judith irgend eine Schuld bei¬
zumessen. Ich fühlte mein Wesen in zwei Theile
gespalten und hätte mich vor Anna bei der Ju¬
dith und vor Judith bei der Anna verbergen
mögen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith
zu gehen und mein Versprechen zu brechen; denn
ich empfand ein gränzenloses Mitleid mit Anna,

mende Regen that mir wohl; ſo war ich bald
aus dem Dorfe und auf eine Hoͤhe gekommen,
auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute
und warf ein ſchwaches Licht in das Unwetter;
ich machte mir die bitterſten Vorwuͤrfe und fuͤhlte
mich ganz zerknirſcht, und als ich ploͤtzlich zu
meinen Fuͤßen den kleinen See und des Schul¬
meiſters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den
grauen Schleier des Regens und der Daͤmmerung,
da ſank ich erſchoͤpft auf den Boden und brach
gar jaͤmmerlich in Thraͤnen aus. Es regnete
immerfort auf mich nieder, die Windſtoͤße fuhren
und pfiffen durch die Luft und heulten erbaͤrmlich
in den Baͤumen, ich weinte dazu, was nur die
Augen faſſen mochten; ſeltſamer Weiſe machte ich
Niemandem Vorwuͤrfe, als mir ſelbſt, und dachte
nicht daran, der Judith irgend eine Schuld bei¬
zumeſſen. Ich fuͤhlte mein Weſen in zwei Theile
geſpalten und haͤtte mich vor Anna bei der Ju¬
dith und vor Judith bei der Anna verbergen
moͤgen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith
zu gehen und mein Verſprechen zu brechen; denn
ich empfand ein graͤnzenloſes Mitleid mit Anna,

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[455/0465] mende Regen that mir wohl; ſo war ich bald aus dem Dorfe und auf eine Hoͤhe gekommen, auf welcher ich weiter ging. Der Morgen graute und warf ein ſchwaches Licht in das Unwetter; ich machte mir die bitterſten Vorwuͤrfe und fuͤhlte mich ganz zerknirſcht, und als ich ploͤtzlich zu meinen Fuͤßen den kleinen See und des Schul¬ meiſters Haus erblickte, kaum erkennbar durch den grauen Schleier des Regens und der Daͤmmerung, da ſank ich erſchoͤpft auf den Boden und brach gar jaͤmmerlich in Thraͤnen aus. Es regnete immerfort auf mich nieder, die Windſtoͤße fuhren und pfiffen durch die Luft und heulten erbaͤrmlich in den Baͤumen, ich weinte dazu, was nur die Augen faſſen mochten; ſeltſamer Weiſe machte ich Niemandem Vorwuͤrfe, als mir ſelbſt, und dachte nicht daran, der Judith irgend eine Schuld bei¬ zumeſſen. Ich fuͤhlte mein Weſen in zwei Theile geſpalten und haͤtte mich vor Anna bei der Ju¬ dith und vor Judith bei der Anna verbergen moͤgen. Ich gelobte aber, nie wieder zur Judith zu gehen und mein Verſprechen zu brechen; denn ich empfand ein graͤnzenloſes Mitleid mit Anna,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/465>, abgerufen am 28.04.2024.