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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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anzublicken wußte in einem windstillen Augen¬
blicke, daß sie einen seltsamen Funken von hoff¬
nungsreichem Verlangen in ihr Herz schleuderte.
Aber zehn derselben ließ sie schonungslos und
mit Aufsehen abziehen, um desto regelmäßiger
den elften in einer sichern Stunde zu beglücken.
Da war ferner die leidenschaftliche Julie Hai¬
der, welche ihren Mann öffentlich und vor so
vielen Zeugen als möglich stürmisch liebkos'te,
die glühendste Eifersucht auf ihn an den Tag
legte und fortwährend der Untreue anklagte, dies
alles so lange bis irgend ein Dritter den fühl¬
losen Gatten beneidete und solcher Leidenschaft¬
lichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da trau¬
erte auch die sanfte Emmeline Ackerstein, welche
eine Dulderin war und von ihrem Manne mi߬
handelt wurde, weil sie gar nichts gelernt hatte
und das Hauswesen vernachlässigte; diese sah bleich
und schmachtend aus und sank mit Thränen dem in
die Arme, der sie trösten mochte. Auch die schlimme
Lieschen Aufdermaur war da, welche so lange
Klatschereien und Zänkereien anrichtete, bis
irgend ein Aufgebrachter, den sie verläumdet, sie
unter vier Augen in die Klemme brachte und

anzublicken wußte in einem windſtillen Augen¬
blicke, daß ſie einen ſeltſamen Funken von hoff¬
nungsreichem Verlangen in ihr Herz ſchleuderte.
Aber zehn derſelben ließ ſie ſchonungslos und
mit Aufſehen abziehen, um deſto regelmäßiger
den elften in einer ſichern Stunde zu beglücken.
Da war ferner die leidenſchaftliche Julie Hai¬
der, welche ihren Mann öffentlich und vor ſo
vielen Zeugen als möglich ſtürmiſch liebkoſ'te,
die glühendſte Eiferſucht auf ihn an den Tag
legte und fortwährend der Untreue anklagte, dies
alles ſo lange bis irgend ein Dritter den fühl¬
loſen Gatten beneidete und ſolcher Leidenſchaft¬
lichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da trau¬
erte auch die ſanfte Emmeline Ackerſtein, welche
eine Dulderin war und von ihrem Manne mi߬
handelt wurde, weil ſie gar nichts gelernt hatte
und das Hausweſen vernachläſſigte; dieſe ſah bleich
und ſchmachtend aus und ſank mit Thränen dem in
die Arme, der ſie tröſten mochte. Auch die ſchlimme
Lieschen Aufdermaur war da, welche ſo lange
Klatſchereien und Zänkereien anrichtete, bis
irgend ein Aufgebrachter, den ſie verläumdet, ſie
unter vier Augen in die Klemme brachte und

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[146/0158] anzublicken wußte in einem windſtillen Augen¬ blicke, daß ſie einen ſeltſamen Funken von hoff¬ nungsreichem Verlangen in ihr Herz ſchleuderte. Aber zehn derſelben ließ ſie ſchonungslos und mit Aufſehen abziehen, um deſto regelmäßiger den elften in einer ſichern Stunde zu beglücken. Da war ferner die leidenſchaftliche Julie Hai¬ der, welche ihren Mann öffentlich und vor ſo vielen Zeugen als möglich ſtürmiſch liebkoſ'te, die glühendſte Eiferſucht auf ihn an den Tag legte und fortwährend der Untreue anklagte, dies alles ſo lange bis irgend ein Dritter den fühl¬ loſen Gatten beneidete und ſolcher Leidenſchaft¬ lichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da trau¬ erte auch die ſanfte Emmeline Ackerſtein, welche eine Dulderin war und von ihrem Manne mi߬ handelt wurde, weil ſie gar nichts gelernt hatte und das Hausweſen vernachläſſigte; dieſe ſah bleich und ſchmachtend aus und ſank mit Thränen dem in die Arme, der ſie tröſten mochte. Auch die ſchlimme Lieschen Aufdermaur war da, welche ſo lange Klatſchereien und Zänkereien anrichtete, bis irgend ein Aufgebrachter, den ſie verläumdet, ſie unter vier Augen in die Klemme brachte und

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/158>, abgerufen am 29.04.2024.