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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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er schon nicht wähle. Es war ihm unbequem,
an dem schönen Tage in der Kirche zu sitzen mit
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht
betrachtete, schien sogar ein Anflug von philister¬
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen
Wahlen, da sie eine gar so stille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz scheuete die Pflicht
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,
den besseren Hut zu nehmen und uns an einen
höchst langweiligen oder trübseligen Ort hinzu¬
begeben, als wie ein Taufstein, ein Kirchhof oder
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt
gerade diese Weise der Seldwyler, die sie nun
angenommen, für unerträglich und unverschämt,
und eben weil Niemand hinging, so wünschte sie
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie steckte es
daher hinter seine Frau und trug dieser auf,
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬
lich in die Versammlung ginge und einem tüch¬
tigen Manne seine Stimme gäbe, und wenn er
auch ganz allein stände mit derselben. Allein
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem,
an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit
einigen alten Leuten, und, wenn man es recht
betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬
hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen
Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht
nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen
Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen,
den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen
höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬
begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder
ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt
gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun
angenommen, für unerträglich und unverſchämt,
und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie
doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es
daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf,
ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬
lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬
tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er
auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein
mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

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[185/0197] er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem, an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit einigen alten Leuten, und, wenn man es recht betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬ hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen, den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬ begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun angenommen, für unerträglich und unverſchämt, und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf, ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬ lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬ tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/197>, abgerufen am 29.04.2024.