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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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"daß ich am Ende unbesonnen handle und meine eigenen
Lehrsätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die
Geschichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander
setze. Vielleicht werden Sie sagen, es sei nicht die rechte
Bildung gewesen, an welcher das Schiff gescheitert. Am
besten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schlusse
verschone!"

"Nein, fahren Sie fort, es ist immer lehrreich, zu
vernehmen, was die Herren hinsichtlich unseres Geschlechtes
für wünschenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es
ist zuweilen nicht viel tiefsinniger, als das Ideal, welches
unsern Romanschreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬
gestalten oder ersten Liebhaber vorschwebt, wegen deren
sie so oft ausgelacht werden."

"Sie vergessen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬
bare, sondern über fremdes Schicksal berichte, das mich
persönlich wenig berührt hat."

"Um so gewissenhafter halten Sie sich an die Wahr¬
heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen
können!" sagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:

"Erwin Altenauer hatte seine Verheirathung so geheim
betrieben, daß in unserer Stadt Niemand darum wußte;
selbst die Herrschaft der ehemaligen Magd und die übrigen
Hausgenossen ahnten Nichts von dem Vorgange, und
Jedermann glaubte, er habe einfach seinen Aufenthalt bei
uns beendigt und sei abgereist, wie man das an solchen
Gästen ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre später

„daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen
Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die
Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander
ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte
Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am
beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe
verſchone!“

„Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu
vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes
für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es
iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches
unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬
geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren
ſie ſo oft ausgelacht werden.“

„Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬
bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich
perſönlich wenig berührt hat.“

„Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬
heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen
können!“ ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter:

„Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim
betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte;
ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen
Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und
Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei
uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen
Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter

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[94/0104] „daß ich am Ende unbeſonnen handle und meine eigenen Lehrſätze in bewußter Materie untergrabe, indem ich die Geſchichte fertig erzähle und deren Verlauf auseinander ſetze. Vielleicht werden Sie ſagen, es ſei nicht die rechte Bildung geweſen, an welcher das Schiff geſcheitert. Am beſten thu' ich wol, wenn ich Sie mit dem Schluſſe verſchone!“ „Nein, fahren Sie fort, es iſt immer lehrreich, zu vernehmen, was die Herren hinſichtlich unſeres Geſchlechtes für wünſchenswerth und erbaulich halten; ich fürchte, es iſt zuweilen nicht viel tiefſinniger, als das Ideal, welches unſern Romanſchreiberinnen bei Entwerfung ihrer Helden¬ geſtalten oder erſten Liebhaber vorſchwebt, wegen deren ſie ſo oft ausgelacht werden.“ „Sie vergeſſen, daß ich keine eigene Erfindung offen¬ bare, ſondern über fremdes Schickſal berichte, das mich perſönlich wenig berührt hat.“ „Um ſo gewiſſenhafter halten Sie ſich an die Wahr¬ heit, damit wir den Fall dann prüfen und reiflich berathen können!“ ſagte Lucia, und Reinhart erzählte weiter: „Erwin Altenauer hatte ſeine Verheirathung ſo geheim betrieben, daß in unſerer Stadt Niemand darum wußte; ſelbſt die Herrſchaft der ehemaligen Magd und die übrigen Hausgenoſſen ahnten Nichts von dem Vorgange, und Jedermann glaubte, er habe einfach ſeinen Aufenthalt bei uns beendigt und ſei abgereiſt, wie man das an ſolchen Gäſten ja gewohnt war. Etwa anderthalb Jahre ſpäter

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/104>, abgerufen am 29.04.2024.