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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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lebte ich in der Hauptstadt, in welcher jene amerikanische
Gesandtschaft residirte. Ich benutzte die dortigen Anstalten
zur Fortsetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten
Studien, dünkte mich übrigens schon über das Studenten¬
thum hinaus zu sein, und ging nur mit Leuten um, die
alle einige Jahre älter waren, als ich.

"Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als
ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu
besuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung,
die von gutem Geschmacke förmlich glänzte und zwar in
tiefer, stiller Ruhe. Zu meiner Ueberraschung wurde ich
der Gemahlin vorgestellt, einer vornehm gekleideten, aller¬
schönsten Dame von herrlicher Gestalt. Das reiche Haar
war modisch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohl¬
geformte Hand ganz weiß und mit alterthümlichen bunten
Ringen geschmückt, den Geschenken aus den Familien¬
schätzen des Hauses in Boston. Ich hatte die Regine
nur jenes einzige Mal in der Nacht gesehen, wo ich dabei
stand, als sie von den Studenten bedrängt wurde; ihre
Gesichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch
auch sonst hätte ich jetzt nicht vermuthen können, daß die
arme Magd vor mir stand, weil die kleine Begebenheit
mir vollkommen aus dem Gedächtniß verschwunden war.
Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der
sich erst mit der eleganten Bekleidung eingestellt, war
schon im Verschwinden begriffen und schien eher ein Zeichen
fremdartigen Wesens als etwas Anderes zu sein. Sie

lebte ich in der Hauptſtadt, in welcher jene amerikaniſche
Geſandtſchaft reſidirte. Ich benutzte die dortigen Anſtalten
zur Fortſetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten
Studien, dünkte mich übrigens ſchon über das Studenten¬
thum hinaus zu ſein, und ging nur mit Leuten um, die
alle einige Jahre älter waren, als ich.

„Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als
ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu
beſuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung,
die von gutem Geſchmacke förmlich glänzte und zwar in
tiefer, ſtiller Ruhe. Zu meiner Ueberraſchung wurde ich
der Gemahlin vorgeſtellt, einer vornehm gekleideten, aller¬
ſchönſten Dame von herrlicher Geſtalt. Das reiche Haar
war modiſch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohl¬
geformte Hand ganz weiß und mit alterthümlichen bunten
Ringen geſchmückt, den Geſchenken aus den Familien¬
ſchätzen des Hauſes in Boſton. Ich hatte die Regine
nur jenes einzige Mal in der Nacht geſehen, wo ich dabei
ſtand, als ſie von den Studenten bedrängt wurde; ihre
Geſichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch
auch ſonſt hätte ich jetzt nicht vermuthen können, daß die
arme Magd vor mir ſtand, weil die kleine Begebenheit
mir vollkommen aus dem Gedächtniß verſchwunden war.
Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der
ſich erſt mit der eleganten Bekleidung eingeſtellt, war
ſchon im Verſchwinden begriffen und ſchien eher ein Zeichen
fremdartigen Weſens als etwas Anderes zu ſein. Sie

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[95/0105] lebte ich in der Hauptſtadt, in welcher jene amerikaniſche Geſandtſchaft reſidirte. Ich benutzte die dortigen Anſtalten zur Fortſetzung meiner etwas willkürlichen und ungeregelten Studien, dünkte mich übrigens ſchon über das Studenten¬ thum hinaus zu ſein, und ging nur mit Leuten um, die alle einige Jahre älter waren, als ich. „Auf einmal tauchte Herr Erwin wieder auf. Als ich ihm irgendwo begegnete, lud er mich ein, ihn zu beſuchen. Ich fand ihn in wohleingerichteter Wohnung, die von gutem Geſchmacke förmlich glänzte und zwar in tiefer, ſtiller Ruhe. Zu meiner Ueberraſchung wurde ich der Gemahlin vorgeſtellt, einer vornehm gekleideten, aller¬ ſchönſten Dame von herrlicher Geſtalt. Das reiche Haar war modiſch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohl¬ geformte Hand ganz weiß und mit alterthümlichen bunten Ringen geſchmückt, den Geſchenken aus den Familien¬ ſchätzen des Hauſes in Boſton. Ich hatte die Regine nur jenes einzige Mal in der Nacht geſehen, wo ich dabei ſtand, als ſie von den Studenten bedrängt wurde; ihre Geſichtszüge waren mir kaum erkennbar geworden, doch auch ſonſt hätte ich jetzt nicht vermuthen können, daß die arme Magd vor mir ſtand, weil die kleine Begebenheit mir vollkommen aus dem Gedächtniß verſchwunden war. Ein Anflug von Schwerfälligkeit in den Bewegungen, der ſich erſt mit der eleganten Bekleidung eingeſtellt, war ſchon im Verſchwinden begriffen und ſchien eher ein Zeichen fremdartigen Weſens als etwas Anderes zu ſein. Sie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/105>, abgerufen am 29.04.2024.