Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

kann eben sagen, daß er bei aller Humanität und Frei¬
sinnigkeit, die ihn beseelte, hierin um so geiziger, ja ängst¬
licher war, als er sich in allen wesentlichen und wichtigen
Dingen ganz sicher fühlte.

Ein zweifelloser Erfolg seiner Erziehungskunst blühte
ihm fast unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während
des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutscher
Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von
Concerten sich mit großem Aufsehen hören zu lassen.
Erwin, der keine Gelegenheit versäumte, seiner Frau alle
bildenden Genüsse zugänglich zu machen, führte Reginen
ebenfalls in die weite Halle, wo tausende von Menschen
als Zuhörer versammelt waren. Sie wagte sich kaum zu
rühren, mitten in dem Heere von reichen und geschmückten
Leuten sitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von
den Gesängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger
so deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn sie nur ein
Mann wären, die Weise eines altdeutschen Volksliedes an,
daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich
erkannte, denn sie hatte das Lied als halbwüchsiges
Mädchen einst selber gesungen und es erst in der Dienst¬
barkeit und Mühsal des Lebens vergessen. Unverwandt
lauschend blickte sie nach dem Häuflein der schwarz¬
gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus
dem schweigenden und schimmernden Menschenmeere ragte,
und was sie hörte, war und blieb das Lied aus ihren
Jugendtagen, die so schwermüthig waren, wie das Lied.

kann eben ſagen, daß er bei aller Humanität und Frei¬
ſinnigkeit, die ihn beſeelte, hierin um ſo geiziger, ja ängſt¬
licher war, als er ſich in allen weſentlichen und wichtigen
Dingen ganz ſicher fühlte.

Ein zweifelloſer Erfolg ſeiner Erziehungskunſt blühte
ihm faſt unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während
des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutſcher
Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von
Concerten ſich mit großem Aufſehen hören zu laſſen.
Erwin, der keine Gelegenheit verſäumte, ſeiner Frau alle
bildenden Genüſſe zugänglich zu machen, führte Reginen
ebenfalls in die weite Halle, wo tauſende von Menſchen
als Zuhörer verſammelt waren. Sie wagte ſich kaum zu
rühren, mitten in dem Heere von reichen und geſchmückten
Leuten ſitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von
den Geſängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger
ſo deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn ſie nur ein
Mann wären, die Weiſe eines altdeutſchen Volksliedes an,
daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich
erkannte, denn ſie hatte das Lied als halbwüchſiges
Mädchen einſt ſelber geſungen und es erſt in der Dienſt¬
barkeit und Mühſal des Lebens vergeſſen. Unverwandt
lauſchend blickte ſie nach dem Häuflein der ſchwarz¬
gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus
dem ſchweigenden und ſchimmernden Menſchenmeere ragte,
und was ſie hörte, war und blieb das Lied aus ihren
Jugendtagen, die ſo ſchwermüthig waren, wie das Lied.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="98"/>
kann eben &#x017F;agen, daß er bei aller Humanität und Frei¬<lb/>
&#x017F;innigkeit, die ihn be&#x017F;eelte, hierin um &#x017F;o geiziger, ja äng&#x017F;<lb/>
licher war, als er &#x017F;ich in allen we&#x017F;entlichen und wichtigen<lb/>
Dingen ganz &#x017F;icher fühlte.</p><lb/>
          <p>Ein zweifello&#x017F;er Erfolg &#x017F;einer Erziehungskun&#x017F;t blühte<lb/>
ihm fa&#x017F;t unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während<lb/>
des Aufenthaltes in England war ein berühmter deut&#x017F;cher<lb/>
Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von<lb/>
Concerten &#x017F;ich mit großem Auf&#x017F;ehen hören zu la&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Erwin, der keine Gelegenheit ver&#x017F;äumte, &#x017F;einer Frau alle<lb/>
bildenden Genü&#x017F;&#x017F;e zugänglich zu machen, führte Reginen<lb/>
ebenfalls in die weite Halle, wo tau&#x017F;ende von Men&#x017F;chen<lb/>
als Zuhörer ver&#x017F;ammelt waren. Sie wagte &#x017F;ich kaum zu<lb/>
rühren, mitten in dem Heere von reichen und ge&#x017F;chmückten<lb/>
Leuten &#x017F;itzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von<lb/>
den Ge&#x017F;ängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger<lb/>
&#x017F;o deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn &#x017F;ie nur <hi rendition="#g">ein</hi><lb/>
Mann wären, die Wei&#x017F;e eines altdeut&#x017F;chen Volksliedes an,<lb/>
daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich<lb/>
erkannte, denn &#x017F;ie hatte das Lied als halbwüch&#x017F;iges<lb/>
Mädchen ein&#x017F;t &#x017F;elber ge&#x017F;ungen und es er&#x017F;t in der Dien&#x017F;<lb/>
barkeit und Müh&#x017F;al des Lebens verge&#x017F;&#x017F;en. Unverwandt<lb/>
lau&#x017F;chend blickte &#x017F;ie nach dem Häuflein der &#x017F;chwarz¬<lb/>
gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus<lb/>
dem &#x017F;chweigenden und &#x017F;chimmernden Men&#x017F;chenmeere ragte,<lb/>
und was &#x017F;ie hörte, war und blieb das Lied aus ihren<lb/>
Jugendtagen, die &#x017F;o &#x017F;chwermüthig waren, wie das Lied.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0108] kann eben ſagen, daß er bei aller Humanität und Frei¬ ſinnigkeit, die ihn beſeelte, hierin um ſo geiziger, ja ängſt¬ licher war, als er ſich in allen weſentlichen und wichtigen Dingen ganz ſicher fühlte. Ein zweifelloſer Erfolg ſeiner Erziehungskunſt blühte ihm faſt unerwartet auf einem anderen Gebiete. Während des Aufenthaltes in England war ein berühmter deutſcher Männerchor dorthin gekommen, um in einer Reihe von Concerten ſich mit großem Aufſehen hören zu laſſen. Erwin, der keine Gelegenheit verſäumte, ſeiner Frau alle bildenden Genüſſe zugänglich zu machen, führte Reginen ebenfalls in die weite Halle, wo tauſende von Menſchen als Zuhörer verſammelt waren. Sie wagte ſich kaum zu rühren, mitten in dem Heere von reichen und geſchmückten Leuten ſitzend, und vernahm nicht eben viel Einzelnes von den Geſängen. Da hoben die neunzig bis hundert Sänger ſo deutlich und ausdrucksvoll, wie wenn ſie nur ein Mann wären, die Weiſe eines altdeutſchen Volksliedes an, daß Regine jedes Wort und jeden Ton augenblicklich erkannte, denn ſie hatte das Lied als halbwüchſiges Mädchen einſt ſelber geſungen und es erſt in der Dienſt¬ barkeit und Mühſal des Lebens vergeſſen. Unverwandt lauſchend blickte ſie nach dem Häuflein der ſchwarz¬ gekleideten Männer hin, das wie eine dunkle Klippe aus dem ſchweigenden und ſchimmernden Menſchenmeere ragte, und was ſie hörte, war und blieb das Lied aus ihren Jugendtagen, die ſo ſchwermüthig waren, wie das Lied.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/108
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/108>, abgerufen am 29.04.2024.