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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Der brausende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte
sie aus der traumartigen Versenkung, und erst jetzt schaute
sie erstaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob sie fragen
wollte, was das gewesen sei. Der wies auf den Text in
dem Hefte hin, das sie in der Hand hielt, ohne es bis
jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da stand das Lied
zu lesen, Wort für Wort.

Beim Nachhausefahren fing sie es im Dunkel des
Wagens an zu singen, und als Erwin über die anmuthige
Regung erfreut ihre Hand faßte, frug sie, was das nur
sei, daß ein schlichtes Liedchen armer Landleute so fern
von der Heimat gesungen werde und einer vornehmen
Menschheit so gut gefalle? Noch mehr vergnügt über
diese Frage erwiderte er, Grund und Ursache der Er¬
scheinung seien die gleichen, warum auch sie, das Kind
des Volkes, ihm so wohl gefalle und so sehr von ihm
geliebt werde. Dann sagte er ihr vor der Hand das
Nöthigste über die Sache; schon am nächsten Tage aber
suchte er einen deutschen Buchhändler auf, der, wie er
gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und
bei diesem fand er die bekannte Sammlung, welche des
Knaben Wunderhorn heißt. Er lehrte sie das kleine Lied
in den stattlichen Bänden aufzufinden, und sie erblickte
und las es mit einem gewissen Stolze zwischen den hun¬
derten von ähnlichen und noch schöneren Liedern. Aber
auch diese las sie und legte das Buch nicht aus der Hand,
bis sie es durchgelesen hatte, manches Lied zwei- und

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Der brauſende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte
ſie aus der traumartigen Verſenkung, und erſt jetzt ſchaute
ſie erſtaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob ſie fragen
wollte, was das geweſen ſei. Der wies auf den Text in
dem Hefte hin, das ſie in der Hand hielt, ohne es bis
jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da ſtand das Lied
zu leſen, Wort für Wort.

Beim Nachhauſefahren fing ſie es im Dunkel des
Wagens an zu ſingen, und als Erwin über die anmuthige
Regung erfreut ihre Hand faßte, frug ſie, was das nur
ſei, daß ein ſchlichtes Liedchen armer Landleute ſo fern
von der Heimat geſungen werde und einer vornehmen
Menſchheit ſo gut gefalle? Noch mehr vergnügt über
dieſe Frage erwiderte er, Grund und Urſache der Er¬
ſcheinung ſeien die gleichen, warum auch ſie, das Kind
des Volkes, ihm ſo wohl gefalle und ſo ſehr von ihm
geliebt werde. Dann ſagte er ihr vor der Hand das
Nöthigſte über die Sache; ſchon am nächſten Tage aber
ſuchte er einen deutſchen Buchhändler auf, der, wie er
gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und
bei dieſem fand er die bekannte Sammlung, welche des
Knaben Wunderhorn heißt. Er lehrte ſie das kleine Lied
in den ſtattlichen Bänden aufzufinden, und ſie erblickte
und las es mit einem gewiſſen Stolze zwiſchen den hun¬
derten von ähnlichen und noch ſchöneren Liedern. Aber
auch dieſe las ſie und legte das Buch nicht aus der Hand,
bis ſie es durchgeleſen hatte, manches Lied zwei- und

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[99/0109] Der brauſende Beifall, der dem letzten Tone folgte, weckte ſie aus der traumartigen Verſenkung, und erſt jetzt ſchaute ſie erſtaunt zu ihrem Manne hinüber, als ob ſie fragen wollte, was das geweſen ſei. Der wies auf den Text in dem Hefte hin, das ſie in der Hand hielt, ohne es bis jetzt gebraucht zu haben, und wahrlich, da ſtand das Lied zu leſen, Wort für Wort. Beim Nachhauſefahren fing ſie es im Dunkel des Wagens an zu ſingen, und als Erwin über die anmuthige Regung erfreut ihre Hand faßte, frug ſie, was das nur ſei, daß ein ſchlichtes Liedchen armer Landleute ſo fern von der Heimat geſungen werde und einer vornehmen Menſchheit ſo gut gefalle? Noch mehr vergnügt über dieſe Frage erwiderte er, Grund und Urſache der Er¬ ſcheinung ſeien die gleichen, warum auch ſie, das Kind des Volkes, ihm ſo wohl gefalle und ſo ſehr von ihm geliebt werde. Dann ſagte er ihr vor der Hand das Nöthigſte über die Sache; ſchon am nächſten Tage aber ſuchte er einen deutſchen Buchhändler auf, der, wie er gehört, auch alte Sachen kaufte und wieder verkaufte, und bei dieſem fand er die bekannte Sammlung, welche des Knaben Wunderhorn heißt. Er lehrte ſie das kleine Lied in den ſtattlichen Bänden aufzufinden, und ſie erblickte und las es mit einem gewiſſen Stolze zwiſchen den hun¬ derten von ähnlichen und noch ſchöneren Liedern. Aber auch dieſe las ſie und legte das Buch nicht aus der Hand, bis ſie es durchgeleſen hatte, manches Lied zwei- und 7*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/109>, abgerufen am 29.04.2024.