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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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dreimal. So ereignete sich das Seltene, daß ein un¬
geschultes Volkskind ein starkes Buch Gedichte mit Auf¬
merksamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo
Gebildete dergleichen fast nie mehr über sich bringen.
Da sie liebte, so fühlte sie erst jetzt noch das schöne
Glühen der Leidenschaft mit, wie es in jenen Liedern
zum Ausdrucke kommt, und sie empfand dies Glühen um
so glückseliger, als sie selbst ja in sicheren Liebesarmen
ruhte.

Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und
holte die Goethe'schen Jugendlieder herbei. Zuerst zeigte
er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone ab¬
gelauscht und nachgesungen; dann las er mit ihr eins
um's andere der aus dein eigenen Blute entstandenen,
indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffen¬
den Geschichten dazu erzählte. Wie über eine leichte
Regenbogenbrücke ging sie vom Wunderhorn in dieses
lichte Gehölz maigrüner Ahornstämmchen hinüber, oder
einfacher gesagt, es dauerte nicht lange, so regierte sie
das Büchlein selbständig, und es lag auf ihrem Tisch,
wie wenn sie die erinnerungsreiche und wählerische Ma¬
trone einer vergangenen Zeit gewesen wäre, und doch
lebte sie Alles, was darin stand, mit Jugendblut durch,
und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen
Geistes ihr von Augen und Mund.

Es kann natürlich nicht jeder Pfad und jedes Brück¬
lein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem

dreimal. So ereignete ſich das Seltene, daß ein un¬
geſchultes Volkskind ein ſtarkes Buch Gedichte mit Auf¬
merkſamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo
Gebildete dergleichen faſt nie mehr über ſich bringen.
Da ſie liebte, ſo fühlte ſie erſt jetzt noch das ſchöne
Glühen der Leidenſchaft mit, wie es in jenen Liedern
zum Ausdrucke kommt, und ſie empfand dies Glühen um
ſo glückſeliger, als ſie ſelbſt ja in ſicheren Liebesarmen
ruhte.

Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und
holte die Goethe'ſchen Jugendlieder herbei. Zuerſt zeigte
er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone ab¬
gelauſcht und nachgeſungen; dann las er mit ihr eins
um's andere der aus dein eigenen Blute entſtandenen,
indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffen¬
den Geſchichten dazu erzählte. Wie über eine leichte
Regenbogenbrücke ging ſie vom Wunderhorn in dieſes
lichte Gehölz maigrüner Ahornſtämmchen hinüber, oder
einfacher geſagt, es dauerte nicht lange, ſo regierte ſie
das Büchlein ſelbſtändig, und es lag auf ihrem Tiſch,
wie wenn ſie die erinnerungsreiche und wähleriſche Ma¬
trone einer vergangenen Zeit geweſen wäre, und doch
lebte ſie Alles, was darin ſtand, mit Jugendblut durch,
und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen
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[100/0110] dreimal. So ereignete ſich das Seltene, daß ein un¬ geſchultes Volkskind ein ſtarkes Buch Gedichte mit Auf¬ merkſamkeit und Genuß durchlas in einem Zeitalter, wo Gebildete dergleichen faſt nie mehr über ſich bringen. Da ſie liebte, ſo fühlte ſie erſt jetzt noch das ſchöne Glühen der Leidenſchaft mit, wie es in jenen Liedern zum Ausdrucke kommt, und ſie empfand dies Glühen um ſo glückſeliger, als ſie ſelbſt ja in ſicheren Liebesarmen ruhte. Jetzt aber nahm Erwin den Augenblick wahr und holte die Goethe'ſchen Jugendlieder herbei. Zuerſt zeigte er ihr diejenigen, die der Dichter dem Volkstone ab¬ gelauſcht und nachgeſungen; dann las er mit ihr eins um's andere der aus dein eigenen Blute entſtandenen, indem er der wohlig an ihn gelehnten Frau die betreffen¬ den Geſchichten dazu erzählte. Wie über eine leichte Regenbogenbrücke ging ſie vom Wunderhorn in dieſes lichte Gehölz maigrüner Ahornſtämmchen hinüber, oder einfacher geſagt, es dauerte nicht lange, ſo regierte ſie das Büchlein ſelbſtändig, und es lag auf ihrem Tiſch, wie wenn ſie die erinnerungsreiche und wähleriſche Ma¬ trone einer vergangenen Zeit geweſen wäre, und doch lebte ſie Alles, was darin ſtand, mit Jugendblut durch, und Erwin küßte die erwachenden Spuren eines neuen Geiſtes ihr von Augen und Mund. Es kann natürlich nicht jeder Pfad und jedes Brück¬ lein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/110>, abgerufen am 29.04.2024.