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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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nicht aus Armuth, sondern aus Geiz; denn er verstand
es sehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und studirte
auch nichts mehr, seit das Geld einging. Beim Erwerbe
aber wußte sie, um ihrem Geschlecht jetzt wieder die Ehre
zu geben, sich sehr unschüchtern überall vorzudrängen, und
hier nahm sie urplötzlich die Rücksichten auf das Geschlecht
von Jedermann in Anspruch. Der rohe Aepfelschmaus,
wobei sie Kerne und Hülsenstücke über die Wagenwand
hinausspuckte, ärgerte mich dergestalt, daß ich beschloß, sie
jetzt schon zu verscheuchen. Ich begann ein Gespräch über
die Künstlerinnen im Allgemeinen und einige merkwürdige
Erscheinungen im Besonderen, und ich lobte vorzüglich
diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den schönen Künsten
zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauen¬
gestalt mit heiterem oder tragischem Schicksale genossen.
Zuletzt schilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bild¬
niß der Angelika Kaufmann, von ihr selbst gemalt, auf
mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen
reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben,
der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervoll¬
ständigte die Gestalt, indem ich sie begeistert an die
Glasharmonika setzte, das Auge emporgehoben, und rings
um sie her die edelste römische Gesellschaft gruppirte,
welche den ergreifenden Tönen lauschte.

"Das sind tempi passati," unterbrach mich die Ma¬
lerin, "jetzt haben wir Künstler Anderes zu thun, als Glas¬
glocken zu reiben und mit Epheukränzchen zu kokettiren!"

Keller, Sinngedicht. 8

nicht aus Armuth, ſondern aus Geiz; denn er verſtand
es ſehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und ſtudirte
auch nichts mehr, ſeit das Geld einging. Beim Erwerbe
aber wußte ſie, um ihrem Geſchlecht jetzt wieder die Ehre
zu geben, ſich ſehr unſchüchtern überall vorzudrängen, und
hier nahm ſie urplötzlich die Rückſichten auf das Geſchlecht
von Jedermann in Anſpruch. Der rohe Aepfelſchmaus,
wobei ſie Kerne und Hülſenſtücke über die Wagenwand
hinausſpuckte, ärgerte mich dergeſtalt, daß ich beſchloß, ſie
jetzt ſchon zu verſcheuchen. Ich begann ein Geſpräch über
die Künſtlerinnen im Allgemeinen und einige merkwürdige
Erſcheinungen im Beſonderen, und ich lobte vorzüglich
diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den ſchönen Künſten
zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauen¬
geſtalt mit heiterem oder tragiſchem Schickſale genoſſen.
Zuletzt ſchilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bild¬
niß der Angelika Kaufmann, von ihr ſelbſt gemalt, auf
mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen
reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben,
der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervoll¬
ſtändigte die Geſtalt, indem ich ſie begeiſtert an die
Glasharmonika ſetzte, das Auge emporgehoben, und rings
um ſie her die edelſte römiſche Geſellſchaft gruppirte,
welche den ergreifenden Tönen lauſchte.

„Das ſind tempi passati,“ unterbrach mich die Ma¬
lerin, „jetzt haben wir Künſtler Anderes zu thun, als Glas¬
glocken zu reiben und mit Epheukränzchen zu kokettiren!“

Keller, Sinngedicht. 8
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[113/0123] nicht aus Armuth, ſondern aus Geiz; denn er verſtand es ſehr wohl, gehörig Geld zu verdienen, und ſtudirte auch nichts mehr, ſeit das Geld einging. Beim Erwerbe aber wußte ſie, um ihrem Geſchlecht jetzt wieder die Ehre zu geben, ſich ſehr unſchüchtern überall vorzudrängen, und hier nahm ſie urplötzlich die Rückſichten auf das Geſchlecht von Jedermann in Anſpruch. Der rohe Aepfelſchmaus, wobei ſie Kerne und Hülſenſtücke über die Wagenwand hinausſpuckte, ärgerte mich dergeſtalt, daß ich beſchloß, ſie jetzt ſchon zu verſcheuchen. Ich begann ein Geſpräch über die Künſtlerinnen im Allgemeinen und einige merkwürdige Erſcheinungen im Beſonderen, und ich lobte vorzüglich diejenigen, welche neben ihrem Rufe in den ſchönen Künſten zugleich des unvergänglichen Ruhmes einer idealen Frauen¬ geſtalt mit heiterem oder tragiſchem Schickſale genoſſen. Zuletzt ſchilderte ich den lieblichen Eindruck, den das Bild¬ niß der Angelika Kaufmann, von ihr ſelbſt gemalt, auf mich gemacht habe, den blühenden Kopf mit den vollen reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben, der Körper in weißes Gewand gehüllt, und ich vervoll¬ ſtändigte die Geſtalt, indem ich ſie begeiſtert an die Glasharmonika ſetzte, das Auge emporgehoben, und rings um ſie her die edelſte römiſche Geſellſchaft gruppirte, welche den ergreifenden Tönen lauſchte. „Das ſind tempi passati,“ unterbrach mich die Ma¬ lerin, „jetzt haben wir Künſtler Anderes zu thun, als Glas¬ glocken zu reiben und mit Epheukränzchen zu kokettiren!“ Keller, Sinngedicht. 8

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/123>, abgerufen am 29.04.2024.