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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutsche Männer saßen,
die einst Studenten gewesen und sich langsam und vor¬
sichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten.

Ich hielt es am andern Tage für schicklich, der Frau
Regine einen Besuch abzustatten. Als ich an ihrer Thüre
die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haus¬
hälterin oder wie man die Person nennen will, die von
allem etwas vorstellte und versah. Zu meiner Verwun¬
derung betrachtete sie mich mit einem unheimlich ernsten
Gesichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen
schien. Sie besah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ
den Blick über diesen hinaus noch weiter in die Höhe
gehen, als ob sie in dem Luftraume über mir nach etwas
suchte. Sie schüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das
Wort, das sie zu sagen im Begriffe war, ab und wies
mich kurz in das Zimmer, wo die Frau sich aufhielt.
Hier befiel mich ein neues Erstaunen, ja ein völliger
Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zustande,
in welchem ich die Regine am vorigen Tage gesehen, saß
sie jetzt in einer Art Zerstörung am Fenster und ver¬
mochte sich kaum zu erheben, als ich eintrat; sie ließ sich
aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz
war todtenbleich, überwacht und erschreckt, beinahe gefurcht;
die Augen blickten unsicher und scheu, auch fand sie kaum
die Stimme, als sie meinen Gruß erwiderte. Besorgt
und fast eben so tonlos fragte ich, ob sie sich nicht wohl
befinde? "Allerdings nicht zum Besten", antwortete sie

Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutſche Männer ſaßen,
die einſt Studenten geweſen und ſich langſam und vor¬
ſichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten.

Ich hielt es am andern Tage für ſchicklich, der Frau
Regine einen Beſuch abzuſtatten. Als ich an ihrer Thüre
die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haus¬
hälterin oder wie man die Perſon nennen will, die von
allem etwas vorſtellte und verſah. Zu meiner Verwun¬
derung betrachtete ſie mich mit einem unheimlich ernſten
Geſichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen
ſchien. Sie beſah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ
den Blick über dieſen hinaus noch weiter in die Höhe
gehen, als ob ſie in dem Luftraume über mir nach etwas
ſuchte. Sie ſchüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das
Wort, das ſie zu ſagen im Begriffe war, ab und wies
mich kurz in das Zimmer, wo die Frau ſich aufhielt.
Hier befiel mich ein neues Erſtaunen, ja ein völliger
Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zuſtande,
in welchem ich die Regine am vorigen Tage geſehen, ſaß
ſie jetzt in einer Art Zerſtörung am Fenſter und ver¬
mochte ſich kaum zu erheben, als ich eintrat; ſie ließ ſich
aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz
war todtenbleich, überwacht und erſchreckt, beinahe gefurcht;
die Augen blickten unſicher und ſcheu, auch fand ſie kaum
die Stimme, als ſie meinen Gruß erwiderte. Beſorgt
und faſt eben ſo tonlos fragte ich, ob ſie ſich nicht wohl
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[121/0131] Schuh hohe Bierhalle, wo junge deutſche Männer ſaßen, die einſt Studenten geweſen und ſich langſam und vor¬ ſichtig der braunen Studentenmilch entwöhnten. Ich hielt es am andern Tage für ſchicklich, der Frau Regine einen Beſuch abzuſtatten. Als ich an ihrer Thüre die Glocke zog, öffnete mir die ältere Dienerin oder Haus¬ hälterin oder wie man die Perſon nennen will, die von allem etwas vorſtellte und verſah. Zu meiner Verwun¬ derung betrachtete ſie mich mit einem unheimlich ernſten Geſichte, das zugleich von quälender Neugierde eingenommen ſchien. Sie beſah mich vom Fuß bis zum Kopfe und ließ den Blick über dieſen hinaus noch weiter in die Höhe gehen, als ob ſie in dem Luftraume über mir nach etwas ſuchte. Sie ſchüttelte unbewußt den Kopf, brach aber das Wort, das ſie zu ſagen im Begriffe war, ab und wies mich kurz in das Zimmer, wo die Frau ſich aufhielt. Hier befiel mich ein neues Erſtaunen, ja ein völliger Schrecken. Im Vergleich mit dem blühenden Zuſtande, in welchem ich die Regine am vorigen Tage geſehen, ſaß ſie jetzt in einer Art Zerſtörung am Fenſter und ver¬ mochte ſich kaum zu erheben, als ich eintrat; ſie ließ ſich aber gleich wieder auf den Stuhl fallen. Das Antlitz war todtenbleich, überwacht und erſchreckt, beinahe gefurcht; die Augen blickten unſicher und ſcheu, auch fand ſie kaum die Stimme, als ſie meinen Gruß erwiderte. Beſorgt und faſt eben ſo tonlos fragte ich, ob ſie ſich nicht wohl befinde? „Allerdings nicht zum Beſten“, antwortete ſie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/131>, abgerufen am 29.04.2024.